Marco Goecke entwickelte als Choreograf ein völlig eigenständiges Tanz-Idiom. Foto: Bernd Weissbrod / dpa Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Tamas Detrich, der designierte Intendant des Stuttgarter Balletts, hat den Vertrag von Hauschoreograf Marco Goecke nicht verlängert. Goecke, der vor wenigen Wochen mit der Absage seiner „Kafka“-Uraufführung die letzte große Premiere von Reid Andersons Intendanz platzen ließ, wird damit in der nächsten Spielzeit sein vorerst letztes, kleines Werk für die Kompanie kreieren, für einen Ballettabend im Schauspielhaus.

Detrich, der im Sommer 2018 die Leitung des Stuttgarter Balletts übernimmt, begründet seine Entscheidung laut einer Pressemitteilung damit, dass er zu Beginn seiner Intendanz eine eigene künstlerische Richtung einschlagen will. Vorerst wird er ganz ohne Hauschoreografen arbeiten, um Raum für neue Handschriften zu schaffen. Goeckes Kollege Demis Volpi, dessen „Tod in Venedig“-Inszenierung in der Stuttgarter Oper ständig ausverkauft ist, hatte die Kündigung zum Ende dieser Spielzeit bereits von Reid Anderson erhalten.

Einzigartige Handschrift

„Marco Goecke, dessen Arbeit ich sehr schätze, hat über eine Dekade hinweg das künstlerische Profil des Stuttgarter Balletts geprägt“, so Detrich: „Seine Name ist unzertrennlich mit der Intendanz von Reid Anderson - der ihn entdeckt und gefördert hat - verbunden. Ich sehe meinen Auftrag darin, mich auf die Suche nach Künstlern und jungen Talente zu machen, die meiner Vision für das Stuttgarter Ballett entsprechen.“ Dazu will er offensichtlich die Bande komplett kappen, die ihn noch mit Andersons Intendanz verbinden könnten: „Nicht nur für unsere Kompanie halte ich diesen Kurs für wichtig, sondern auch für unser Publikum.“ Ihm, seinem Publikum, muss Detrich nun schon ein paar Knüller bieten, wenn er in den nächsten Jahren auf Goeckes einzigartige Handschrift verzichten will - den er natürlich weiterhin schätzt, wie er betont. Der Neue beweist Konsequenz, wenn er trotz öffentlichen Drucks die Kündigung des beliebten Künstlers durchzieht; ob er auch künstlerischen Spürsinn beweist, wird sich zeigen. So willkommen sie wären, auch Choreografen wie Hofesh Shechter sind inzwischen keine Neuentdeckung mehr (siehe „Mega Israel“ im Theaterhaus). Akram Khan immerhin, den Detrich ebenfalls in Interviews erwähnte, wäre neu für Deutschland. Eine Entdeckung wie Goecke allerdings wird dem neuen Intendanten kaum gelingen, viel zu selten sind solche singulären, für sich stehenden Tanz-Idiome. Wer weiß, ob überhaupt noch ein Choreograf etwas vollkommen Neues aus der klassischen Basis entwickeln kann.

Mit Aufträgen eingedeckt

Goecke selbst wird die Arbeit nicht ausgehen, er ist mit Aufträgen bei den wichtigen Kompanien in Deutschland und Europa eingedeckt, sein Vertrag beim Nederlands Dans Theater besteht weiter. Dass seine Arbeiten in den vergangenen Jahren überall zu sehen waren, kann man ihm kaum vorwerfen, eher schon das „Fremdgehen“ in der eigenen Stadt mit der Kreation von „Nijinsky“ bei Gauthier Dance. Und natürlich den geplatzten „Kafka“ - mit einer Auftragspartitur und einer fertigen Ausstattung, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden und trotzdem bezahlt werden müssen. Wie viele Tänzer, Staatstheater-Mitarbeiter und Zuschauer er damit enttäuscht hat, ist ihm vielleicht selbst nicht ganz klar.

Wie tiefschwarz es in Marco Goecke jetzt aussieht, kann man sich bei dem hochsensiblen Menschen gut vorstellen, den schon im März Detrichs Ankündigung der Kündigung tief getroffen hatte (worunter sicher auch „Kafka“ litt). Irgendwann aber wird sein Name in der Balletthistorie neben denen von William Forsythe und Jiri Kylián stehen, als einer der ganz Großen - und Stuttgart hatte das Glück, ihre Anfänge und ihr Aufblühen beobachten zu können. Wer für ihren Weggang verantwortlich war, das ist schnell vergessen.