Die österreichische Bläsertruppe FEDERSPIEL wird mit ihrer eigenwilligen Art, Volks-, Welt- und Jazzmusik miteinander zu verknüpfen, am 9. September im Mercedes-Benz Museum für eine „Anarchie zwischen den Stilen“ sorgen. Foto: Maria Frodl Quelle: Unbekannt

Das Rückgrat des Musikfests bilden traditionell die Reihen „Sichten auf Bach“ und „Unternehmen Musik“. Neu ist das Format „Musikfest unterwegs“ mit einem Konzert in der Stiftskirche Herrenberg.

Von Henning Bey

Freiheit ist ein weites Feld. Doch ist sie damit automatisch grenzenlos? Bestimmt kann man sich schnell auf eine gemeinsame Definition einigen, wenn man Freiheit als die Abwesenheit von Zwang beschreibt. „Kein Mensch muss müssen“, schrieb Gotthold Ephraim Lessing im 18. Jahrhundert, und sein Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau führte aus, dass „die Freiheit des Menschen (...) nicht darin (läge), dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ Wie gestaltet man nun ein Musikfest-Programm zum Thema „Freiheit“?

Das von der Internationalen Bachakademie veranstaltete Musikfest Stuttgart begegnet dieser Herausforderung mit 14 durchkomponierten Tagen, an denen Experimentelles auf Bekanntes trifft, sich das übergeordnete Thema in maßgeschneiderten Programmen und Formaten ebenso artikuliert wie in einer breiten Musikvermittlung, die sich an den musikalischen Nachwuchs und das gesamte Musikfest-Publikum wendet.

Neben traditionellen Konzerträumen - die Stuttgarter Liederhalle, die Stiftskirche, das Theaterhaus - bindet die Bachakademie ungewöhnliche Locations wie den Club „Im Wizemann“, den Innenhof des Klettverlags (open air), das Alfred Kärcher Auditorium in Winnenden, die Gerlinger Niederlassung von Endress + Hauser und das Mercedes-Benz Museum in ihr Programm ein. Es ist auch diese Vielfalt der Konzertorte, die das Musikfest Stuttgart in einen musikalisch-thematischen Flächenbrand verwandelt, der die Region vom 28. August bis zum 10. September mit rund 50 Veranstaltungen überzieht.

Erstmalig wird das Junge Stuttgarter Bach (JSB-)Ensemble, das sich aus Chor und Orchester mit Nachwuchsmusikern aus aller Welt zusammensetzt, als „Ensemble in Residence“ mehrere Konzerte im Musikfest bestreiten. Unterrichtet von international renommierten Spezialisten (in einer vorgeschalteten Arbeitsphase am Bodensee und während des Musikfests) präsentieren sich die jungen Musiker in öffentlichen Proben und Werkstattkonzerten.

Vor allem aber eröffnen sie unter dem Dirigat von Akademieleiter Hans-Christoph Rademann am 31. August das Musikfest mit der selten gespielten zweiten Fassung von Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“. Im Zentrum des Werks steht der Choral „Durch Dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen“, der damit das übergeordnete Thema der nächsten Tage formuliert und zugleich Freiheit als ein dialektisches Phänomen definiert.

Zehn Tage später schließt sich der thematische Kreis im Abschlusskonzert des Musikfests mit Georg Friedrich Händels Oratorium „Belshazzar“, interpretiert von Hans-Christoph Rademann und der Gaechinger Cantorey, den Ensembles der Bachakademie, in dem es um die biblische Geschichte eines Tyrannensturzes und die Befreiung des jüdischen Volkes aus der Sklaverei geht.

Diese beiden barocken Großwerke umrahmen ein Kaleidoskop von Veranstaltungen aus Jazz, Neuer Musik, Alter Musik und Weltmusik, aus Improvisiertem, Virtuosem, Nachdenklichem und Amüsantem. In Kooperation mit dem Europäischen Kultursommer Fellbach liefert das römische Ensemble Concerto Romano am 8. September in der Fellbacher Lutherkirche mit Musik aus dem 16. Jahrhundert den Soundtrack zum Romaufenthalt des Reformators Martin Luther im Jahr 1510 (gleichzeitig ein Beitrag zum Reformationsjubiläum, das die Evangelische Landeskirche dieses Jahr mit dem Motto „da ist Freiheit“ feiert).

Am 4. und am 5. September kommen im Club „Im Wizemann“ zwei ungewöhnliche Formate auf die Bühne: Am ersten Abend, der mit „Stylus Phantasticus“ überschrieben ist, treten das Freiburger BarockConsort (die Kammerformation des Freiburger Barockorchesters) und das ensemble recherche mit Barockmusik und Neuer Musik in einen Dialog über die Jahrhundertgrenzen hinweg. Tags darauf entführen die norwegischen Barokksolistene das Publikum in eine deftige „Alehouse Session“ aus dem England des 17. Jahrhunderts, deren Musik stilistisch frei zwischen feiner Kunstmusik, derber Folklore und ausgelassenen Improvisationen changiert; beinahe müßig zu sagen, dass es sich hier nicht um eine typische Konzertveranstaltung handelt. Zwischen den Stücken erzählen die Musiker Witze oder legen eine kesse Sohle aufs Parkett, und natürlich hat die ganze Zeit über die Bar geöffnet, sodass einem guten Schluck Bier während der Vorstellung nichts im Wege steht. Auch so kann historische Aufführungspraxis funktionieren!

Auf eine andere, nicht minder spannende Zeitreise begibt sich der Grandseigneur des deutschen Films Sky du Mont mit dem Schuppanzigh-Quartett am 6. September im Theaterhaus. Er liest aus den Memoiren des großen Verführers Giacomo Casanova, der sich darin als ebenso großer Europäer wie Kenner seiner Zeit erweist und die spannende Geschichte seines Lebens zu einem eindrucksvollen Beweis einer Freiheit des menschlichen Willens erklärt. Dazu liefern die Musiker des Streichquartetts den Casanova wohlbekannten Klang des 18. Jahrhunderts mit Werken von Haydn, Mozart und dem Dresdner Komponisten Johann Gottlieb Naumann.

Apropos Streichquartett: Einen Tag später, am 7. September, erzählt das Programm vom delian::quartett mit der Sängerin Sylvia Schwartz eine ausdrucksstarke Geschichte der Freiheit in der Musik, mit Werken von Monteverdi über Haydn bis Schönberg, in denen sich die Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte als ein ständiger Aufbruch und Neubeginn äußert.

Das Rückgrat des Musikfests bilden stets die Reihen „Sichten auf Bach“ und „Unternehmen Musik“. Dazu zählt auch die spätabendliche Clubschiene „Bach.Lab“, die sich als Experimentierstube wie Gegenwelt zum musikalischen Tagesgeschehen sämtliche Freiheiten zum Thema Johann Sebastian Bach nimmt: mit Bachs Klavierinventionen, die nun im Duo von E-Bass und Violine am 7. September dargeboten werden (zugleich ein Konzert der Reihe „Unternehmen Musik“ in der Firma Endress + Hauser), mit den schönsten langsamen Sätzen aus Bachs Feder in Kombination mit jazziger Weltmusik, gespielt am 8. September von einem ungewöhnlichen Trio aus Akkordeon, Theorbe und Tuba um den bekannten Jazzer Michel Godard, sowie mit dem jungen Klaviertrio „Dock In Absolute“, das am 9. September im Theaterhaus seine ganz eigenen Jazzversionen von Bachs Musik präsentiert.

Auch die Konzerte der Reihe „Unternehmen Musik“ haben sich dem Musikfestthema verschrieben, mit einem musikalisch grenzenlosen Open-Air-Konzert im Innenhof des Klett-Verlags am 2. September, in dem der Roma-Geiger Roby Lakatos mit seiner Gruppe nicht nur aus Brahms einen virtuosen Wandervogel macht. Und mit der österreichischen Bläsertruppe FEDERSPIEL, deren eigenwillige Art, Volks-, Welt- und Jazzmusik miteinander zu verknüpfen, am 9. September im Mercedes-Benz Museum garantiert zu einer „Anarchie zwischen den Stilen“ führen wird.

Die „Sichten auf Bach“ kreisen im diesjährigen Musikfest um zwei Themenkomplexe: einmal um „Bach und Köthen“ - vor 300 Jahren hatte Bach seinen Dienst beim Fürsten von Anhalt-Köthen angetreten; und einmal um die Vorstellung einer gottgeschenkten Freiheit beziehungsweise einer Freiheit durch den christlichen Glauben. Sergey Malov (mit dem ungewöhnlichen Violoncello da Spalla) und Alexander Grychtolik mit seiner Deutschen Hofmusik bringen am 4. und am 7. September Bachs enge Verbindung zum Köthener Hof zum Klingen und reflektieren darüber in den Konzerten vorangestellten Vorträgen in der Reihe „Klangatelier“.

Die Konzerte von Konrad Junghänel mit seinem Cantus Cölln, Hans-Christoph Rademann mit seiner Gaechinger Cantorey sowie von Helmuth Rilling mit dem von ihm einst ins Leben gerufenen JSB-Ensemble erzählen von Bachs musikalischem Blick auf eine himmlische Freiheit, die nicht von dieser Welt ist.

Selbstverständlich gibt es wieder ein Familienkonzert im Musikfest. Am 9. September erzählt die preisgekrönte Gruppe „Die Schurken“ Klein und Groß von einem geplanten Gefängnisausbruch mit einem eigens für die Gefängnisdirektorin komponierten Lied, das ihr Herz erweichen soll.

Neu ist schließlich das Format „Musikfest unterwegs“ mit einem Konzert außerhalb Stuttgarts (am 3. September in der Stiftskirche Herrenberg), in dem Hans-Christoph Rademann mit seinem Dresdner Kammerchor den „Schwanengesang“ von Heinrich Schütz zur Aufführung bringt. Dieses Werk komponierte Schütz ein Jahr vor seinem Tod in einem Spätstil, der sich weder um aktuelle Stilmoden noch um verpflichtende Traditionen kümmerte. Hier kann man von den „letzten Freiheiten“ des Meisters sprechen, einem Phänomen, mit dem sich zwei Tage vor dem Konzert ein „Klangatelier“ in der Staatsgalerie zum Thema „Spätwerke in Musik und Bildender Kunst“ beschäftigt.

Wird man nach dem diesjährigen Musikfest Stuttgart mehr über Freiheit wissen als vorher? Vielleicht. Individuelle Freiheit hängt ja immer vom Standpunkt des Betrachters ab. Dass dieser in den zwei Wochen des Musikfests häufig wechseln und sein Publikum mit vielen schönen Erlebnissen bereichern wird, dürfte hingegen bei der Vielfalt der Veranstaltungen sicher sein.

Karten und Informationen

Kartenverkauf bei der Bachakademie Stuttgart (Tel. 0711-6192161) montags bis freitags von 10 bis 13 und von 14 bis 17 Uhr, während des Musikfests von 8.30 Uhr bis 17 Uhr. Onlineverkauf unter www.musikfest.de

Außerhalb der Bürozeiten werden die Anrufe von Easy Ticket Service entgegengenommen (Tel. 0711-2555 555, montags bis freitags von 8.30 Uhr bis 20 Uhr, samstags von 9 bis 16 Uhr).

Kartenverkauf zudem bei allen Easy-Ticket-Vorverkaufsstellen und für die Veranstaltung „Wandelkonzerte zum Wein“ außerdem im Weinbaumuseum und beim Collegium Wirtemberg.

Musikfest-Pass: Mit dem Musikfest-Pass können für alle Konzerte Plätze in der je nach Verfügbarkeit besten Kategorie zum Preis der niedrigsten Kategorie erworben werden. Der Musikfest-Pass gilt als Fahrkarte im gesamten VVS-Gebiet in der Zeit vom 28. August bis 10. September. Der Musikfest-Pass kostet 120 Euro (für Förderkreismistglieder 100 Euro), ist nicht übertragbar und direkt bei der Bachakademie erhältlich.

Mit dem Studium-Generale-Pass haben die Besucher unbeschränkten Zugang zu den öffentlichen Proben (Werkstattbesuche & Kursbesuche) des JSB-Ensembles und der Meisterkurse im Musikfest sowie zu allen Klangateliers (bis 6. September) und zur Matinée am 2. September. Dazu gibt es Konzertkarten zu den Werkstattkonzerten und eine Platzkarte für das Eröffnungskonzert. Der Studium-Generale-Pass kostet 60 Euro (für Förderkreismitglieder 50 Euro; Tel. 0711- 6192161).

Musikfest-Abonnements: Mit einem Themen-Abonnement ist eine Ermäßigung von 20 Prozent gegenüber Einzelkarten verbunden.

www.bachakademie.de