Ein Mann mit zwei Seiten: Teodor Currentzis. Foto: SWR-Presse/Bildkommunikation - SWR-Presse/Bildkommunikation

Der große und schillernde Dirigent Teodor Currentzis tritt in Stuttgart als neuer Chef des SWR-Sinfonieorchesters an.

StuttgartEr war jung damals, ein armer Musiker in Moskau, der in einer möbellosen Mansarde wohnte, durch deren Fenster nachts der Mond schien. Sie war auch jung damals, eine Schauspielstudentin. Man lernte sich kennen, man redete zwölf Stunden lang, man verliebte sich, und beim Blick auf den Mond war plötzlich von Hochzeit die Rede. Nein, nein, wehrte der arme Musiker ab, heiraten werde er gewiss nie, aber sollte sie einmal heiraten, dann werde er die vielen Musiker, die im Untergrund lebten, zu einem Orchester zusammenbringen und den traurigsten Satz aufführen, den er kenne, nämlich das Finale („Der Abschied“) aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Weil alles Glück nämlich immer auch eine dunkle Seite habe.

Auch Teodor Currentzis hat zwei Seiten. Er erzählt mit leiser, tiefer Stimme; man folgt ihm ebenso gebannt, wie man es tut, wenn er dirigiert, weil er auch in der Sprache Spannungsbögen auszubreiten und zu halten weiß. Eine Handvoll Journalisten, die der SWR zu einem kleinen Kennenlern-Treffen mit dem neuen Chefdirigenten des SWR-Symphonieorchesters geladen hat, erlebt hautnah mit, wie sehr der russisch sozialisierte Grieche die Bühne, ja, die Show liebt und dass er sich gerne reden hört. In sein langes Monologisieren fließen auch mal philosophisch wirkende Plattitüden ein („Wir haben viele Kenntnisse, aber kein Wissen“). Und mancher Satz wird derart verlängert und vergrößert, als sei er ein Notensystem mit lauter feinen Artikulationszeichen und einer wirkungsvollen Fermate am Schluss.

Er macht nichts mit halber Kraft

Die Teilnehmer der Runde spüren aber auch die andere Seite des Teodor Currentzis. Sie ist ebenfalls immer da, sie ist wahrhaftig, meint alles aus tiefstem Herzen ernst. Und sie wird von hoher Energie gespeist. Sie teilt sich mit – auf den Fluren des Funkstudios gibt es keinen Musiker und auch keinen Manager, dessen Augen nicht zu strahlen beginnen, wenn von dem 46-Jährigen die Rede ist. Der stets in Schwarz gekleidete Schlaks ist keiner von denen, die auch mal etwas mit halber Kraft tun könnten. Bei einem Konzert, sagt er, verliere er locker drei Kilo Gewicht.

Diejenigen, die am Montagabend bei einem spontan anberaumten „Überraschungskonzert“ für SWR-Mitglieder, Freunde und per Los ausgewählte Abonnenten im Beethovensaal dabei waren, konnten Currentzis’ physische und emotionale Verausgabung schon einmal hautnah erleben. Und außerdem ahnen, mit welchen Mitteln der Dirigent, der seine Position beim SWR-Symphonieorchester („Ich war gegen die Fusion“) als „Mission“ bezeichnet, das klassische Konzert aus der philharmonischen Routine herausholen und zu einem immer wieder neu zu (er-)findenden Abenteuer machen will.

Im Dunkeln traten die Musiker auf die Bühne, spielten im Schummerlicht ein raffiniert gemachtes zeitgenössisches Stück Musik über Musik (nämlich Marko Nikodijevics „Gesualdo Dub“ mit dem cool-souveränen Pianisten Christoph Grund als Solist). Dann gab’s Beethovens Siebte. Dass das Publikum zwischen deren Sätzen klatschte, mag etwas damit zu tun gehabt haben, dass es erst nach dem Konzert erfuhr, was auf der Bühne gespielt worden war – so könne es mal zuhören, ohne gleich alles in Schubladen einzusortieren. Sagt Teodor Currentzis am Tag darauf – und fügt hinzu, dass ihn Applaus zwischen den Sätzen ganz und gar nicht störe. Schließlich wolle man doch gerade die nicht Klassik-erfahrenen Zuhörer gewinnen, „sie sind die Wichtigsten!“ So wird man also experimentieren: mit Licht, mit Präsentationsformen, mit überraschenden Zugaben, mit Improvisationen (bei Barockem, am Montagabend zu hören bei einer von Currentzis selbst arrangierten Suite aus Tanzsätzen Jean-Philippe Rameaus). Mit einem Orchester, das kammermusikalisch denkt und Musik aller Stile und Zeiten spielt. Und mit Interpretationen, die Notiertes (vor allem Tempi und Dynamik) zuweilen bis ins Extreme ausreizen und vielleicht auch mal mit dem nicht Notiertem (zum Beispiel mit Klangfarben) spielen. Letzteres war bei Beethovens Siebter zu hören, bei der Currentzis den Musikern sogar einen immer schon falsch gespielten Rhythmus ausgetrieben haben will. Auf Roger Norringtons „Stuttgart Sound“ will er aufbauen. Als ihn ein Musiker bei der Probe gefragt habe, ob er hier mit Vibrato spielen solle oder doch besser ohne, habe er ihm geantwortet, dass natürlich jeder, der wolle, gerne nach Herzenslust vibrieren könne – aber bitte nur bei Sechzehntelläufen.

Vibrato bei Sechzehntelläufen! Ein Witz. Currentzis lacht, und eigentlich müsste er jetzt nicht mehr anfügen, dass das Wichtigste im Konzert für ihn die Kommunikation ist. Also die Verbindung zwischen dem Dirigenten und den Musikern („Der Musiker am letzten Pult ist genauso wichtig wie der am ersten Pult“), ebenso zwischen dem Orchester und dem Publikum. Nur wenn diese Dialoge gelängen, könne sich etwas mitteilen von der spirituellen Kraft der Musik. Und davon, dass Musik der heute so unkonzentrierten, hastenden Gesellschaft die Kraft und Ruhe einer in der Gemeinschaft erlebten, besonderen Zeit entgegensetzt. Es ist gut, dass der Dirigent dies noch gesagt hat. Denn plötzlich begreift man, warum ihm zuvor die Erinnerung an eine Jugendliebe in den Sinn gekommen ist. Schließlich hat sich, als er das Mädchen von ehedem 20 Jahre später zufällig wieder traf, alles als Missverständnis herausgestellt: Die Schöne hatte Mahlers „Abschied“ in ihrer Erinnerung als Bossanova abgespeichert.

Seine ganze Liebe gilt der Musik

Aber dieses Ende ist eigentlich gar nicht wichtig, und bei genauerer Betrachtung gilt Gleiches für die Geschichte selbst. Teodor Currentzis hat sie nur erzählt, um zu erzählen. So wie er Musik auch vor allem macht, um Musik zu machen. Weil sie es ist, der seine ganze Liebe gilt. Deshalb verlässt er schließlich das Gespräch lächelnd und mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht: weil er sich nur dort wirklich wohl fühlt, wo er mit Musikern aus bloßen Noten überwältigende Klänge formen kann. Der Manager folgt ihm, in der Hand den Teller mit den Häppchen, von dem die Journalisten jetzt nichts mehr haben dürfen. „Teodor“, sagt der Manager besorgt, „hat heute noch gar nichts gegessen!“ Und weg ist er.

Am 20. und 21. September, einem Donnerstag und einem Freitag, leitet Teodor Currentzis erstmals als Chefdirigent das SWR-Symphonieorchester. Auf dem Programm im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle steht Gustav Mahlers dritte Sinfonie. Mit dabei sind der Knabenchor Collegium Iuvenum und die Altistin Gerhild Romberger. Am 20. September gibt es einen Livestream auf SWR Classic.de.

Am Dienstag, 18. September, gibt der Chefdirigent um 20 Uhr im Mozartsaal der Liederhalle eine Einführung. Ein Anmeldeformular gibt es unter www.swr.de. Auch diese Veranstaltung überträgt SWR Classic live.