Von Thomas Krazeisen

Stuttgart - Die Vergangenheit ist ein fernes, fremdes Land. Peter Härtling verstand es wie nur wenige, es im Wechselspiel von Erinnerung und Imagination der Gegenwart nahe zu bringen und vertraut zu machen. Unter dem Titel „Für Peter Härtling - dem Mann ... dem Kind“ würdigte die Württembergische Bibliotheksgesellschaft jetzt mit einer Hommage im Vortragssaal des Landesmuseums im Stuttgarter Alten Schloss den am 10. Juli dieses Jahres verstorbenen Schriftsteller und Menschen Peter Härtling.

Das eine ist ohne das andere nicht zu denken, Härtlings literarisches Schaffen war tief in seiner Existenz verwurzelt. Und die wiederum ist untrennbar mit Härtlings Erfahrungen als ehemaliges Flüchtlingskind, als unentwegt Heimat Suchender verbunden. „Noch immer bin ich ein alt gewordenes Kind meiner Zeit. Ein befragbares Kriegskind“, heißt es in einem der rezitierten Texte, dem „Versuch einer Summe“, den Härtling mit 80 Jahren unternahm.

Einen weiten biographisch-literarischen Bogen schlägt Ingrid Dolde, Germanistin und Vorsitzende des Nürtinger Hölderlinvereins, mit der von ihr konzipierten Lesung: vom Ende her zurück zu den Anfängen. Vom alten Mann, den die Empfindung eines späten Glücks überwältigt, zurück zum schutzlosen Flüchtlingskind, das in der neuen schwäbischen Heimat das denkbar schlimmste Unglück, nämlich den Verlust beider Eltern, zu verkraften hat. Das Mann-Kind-Motto ist einem Nachruf im „Spiegel“ entlehnt, der Härtlings Essay über Fontanes „Stechlin“, dort vor knapp zehn Jahren publiziert, aufgreift. Darin wünschte sich Härtling jenen Satz als eigenen Nachruf, den der Pastor in seiner Grabrede dem alten Stechlin zugedacht hatte: „Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind.“

Von einem Kind, das sich wie er einst selbst auf erzwungene Wanderschaft begeben musste, erzählt Härtling in seinem letzten Roman „Djadi“, der im vergangenen Jahr erschienen ist. Djadi ist ein syrischer Junge, der nach seiner Flucht alleine in Deutschland gestrandet ist und in einer WG unterkommt. Sein Name heißt soviel wie „mein Glück“.

Ein Glücksfall ist die Verpflichtung von Clemens Nicol für diese Lesung. Der Sprecher und Moderator beim Bayerischen Rundfunk gibt nicht nur dem jungen Asylanten Djadi, der in einem Restaurant die üblichen Stammtischparolen am Nachbartisch hört, mit seiner wunderbar sonoren, weichen und voll tönenden Stimme eine Gestalt und sympathisch souveränen Ausdruck. Auch bei Härtlings Erinnerungsreise zurück in die eigene Kindheit, die er im „Herzwand“-Roman im OP-Saal liegend unternimmt, erweist sich Nicol als einfühlsamer Begleiter. Mit sanftem Timbre, als gelte es, den Operateur nicht bei seiner Arbeit zu stören, führt der Vorleser Härtlings autobiographische Sonde tief in die Nürtinger Kindheit und ihre klaffende Wunde ein - dorthin, wo alles neu begann und wo dem Buben das Schicksal mitten ins Herz stach: Der Vater war tot, wie die Familie in der Neckarstadt erfuhr, das Leben der Mutter, die auf der Flucht von einem russischen Offizier vergewaltigt worden war und eine Überdosis Schlaftabletten genommen hatte, endete 1946 vor den Augen der Kinder: drei quälende Tage lang, die Härtling mit berührender Lakonie schildert. Drei traumatische Tage, denen später Jahrzehnte brennenden Schmerzes folgen sollten: Das Grab der Mutter auf dem alten Nürtinger Friedhof, dem Härtling ein poetisches Denkmal setzte, galt lange Zeit als verschollen. Doch die Planeure der Erinnerung sollten nicht das letzte Wort behalten. Wenige Wochen vor seinem Tod, berichtet Ingrid Dolde, konnte Peter Härtling im Mai dieses Jahres am wiederentdeckten Grab von seiner Mutter Abschied nehmen.

Mit und in diesem Nürtingen, mit dem er immer wieder haderte und fremdelte und das doch zu „seiner Stadt“ wurde, entdeckte Härtling den Dichter Hölderlin. Auch diese Beziehung war keine Liebe auf den ersten Blick. Vielmehr behutsame „Annäherung“, wie Härtling in der vorgetragenen Passage aus dem Hölderlin-Roman bemerkt: die Annäherung und Anverwandlung eines seelenverwandten Nürtinger Kindes und Mannes. „Ich fand ihn und mußte ihn mir erfinden“, heißt es im ebenfalls zitierten Essay „Mein Hölderlin“.

Ehe er seinen berühmten Dichterkollegen kennenlernte, hatte Härtling zunächst Hölderlins Stadt, „seine Landschaft“ entdeckt. Der Albtrauf zwischen Achalm, Jusi, Neuffen und Teck wurde Härtling zur „Urschrift“ seiner eigenen Landschaft. Seine Schönheit und inspirierende Kraft werden in Härtlings Alb-Poemen spürbar, in denen Clemens Nicol den Sänger eines gänzlich unsentimentalischen Heimatbegriffs zum Klingen bringt.

Die Gegend zwischen Neckar und Schwäbischer Alb: „Mein Land ist es geblieben“ heißt es im Gedicht „Anfänge“ von 1988, als Peter Härtling schon seit eineinhalb Jahrzehnten im hessischen Mörfelden-Walldorf wohnte. Es war eine Hommage Härtlings, des großen Erinnerers und Poeten, an seinen Esslinger Freund und ersten Verleger Otto Wolfgang Bechtle zu dessen 70. Geburtstag.