Am Ende bleiben ihm nicht mal seine Würstchen: Matthias Breitenbach als berufserkrankter Schauspieler. Foto: Björn Klein Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Würmer, Flöhe, Zecken: alles Geschöpfe in des Herrgotts Tiergarten, die sich an einen deutlich größeren Organismus anderer Art dranhängen, um sich dauerhaft an seinen Körperflüssigkeiten zu laben, weswegen der ausgebeutete Körper auch „Wirt“ genannt wird - als sei er Herr über einen Bierhahn einer Berliner Eckkneipe. Immerhin sterben die Opfer in den meisten Fällen ja nicht an ihren durstigen oder hungrigen Untermietern respektive Untermieterinnen, auch wenn die einen doch meistens durch die anderen geschwächt werden. Aber zum Thema „Parasiten“ ist noch viel, viel mehr zu sagen, wie man im gleichnamigen Theaterstück, das jetzt in der Außenspielstätte „Nord“ des Staatstheaters Stuttgart Premiere hatte, sehen und hören kann. „Parasiten“ ist ein Kooperationsprojekt der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg (ADK) mit dem Schauspiel Stuttgart, weshalb einige der Mitwirkenden derzeit ADK-Studiengänge absolvieren. Die Regisseurin Anna-Elisabeth Frick (Jahrgang 1989) präsentiert mit dieser Produktion gar ihre Bachelorarbeit.

Neurotische Begeisterung

Entsprechend dem Projektcharakter erwartet einen ein zunächst quirliger, witziger bunter Abend zum Titel-Thema - mit Tanzeinlagen, Solonummern, Vorträgen. Das Bühnenbild ist karg - Kleiderstangen mit Kostümen, ein Schaukasten auf Rollen (Ausstattung: Martha-Marie Pinsker). Der Titel wird dabei sehr weit gefasst. Im Grunde sind wir doch alle Parasiten. Als Intro gibt’s deshalb erst einmal eine „Danke“-Orgie von Schauspielerin Godje Hansen (ADK), die sich vom Theaterbeleuchter über Winfried Kretschmann bis hin zu ihrem „Papa, der unvernünftig verhütet hat“ allen und allem zu Dank verpflichtet fühlt. Getaktet wird der Abend durch Ausführungen eines „Dozenten“, gespielt von Tobias Loth (ADK), der eine neurotische Begeisterung fürs Parasitenpack entwickelt zu haben scheint. Von einem knitzen Schmarotzer ist da die Rede, der sich in Mäusehirnen festsetzt und die kleinen Nager dazu bringt, Katzen zu verfolgen. Verkehrte Welt! Und während der Professor über die zehn Millionen Hausstaubmilben sinniert, die ein durchschnittliches Bett in Deutschland beherbergt, singt einer den Schlager „Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Nacht“.

Witzig-ekelig wird’s, wenn Berit Jentzsch als Schwangere aus ihrem Fatsuit einen Haufen an Gedärmen herauswurstelt. Achja, Ungeborene sind ja eigentlich auch so etwas wie Parasiten, so wie sie sich im Mutterleib durchfuttern. Und klar, das Publikum ist auch ein riesiger Blutsauger: „Ihr fordert große Emotionen von mir, nehmt sie dann mit nach Hause, und ich bleibe ganz alleine hier“, heult Matthias Breitenbach als ausgebeuteter Schauspieler, der berufserkrankt im Rollstuhl sitzt: kaputtes Knie, Herzschrittmacher und Cortison für die Stimme. Und während er extrovertiert „Feelings“ ins Mikro brüllt, dreht einer auf Skatern Pirouetten, während sich eine andere auf die Schultern des Rollifahrers setzt und ihm die Würstchen wegfrisst.

Zirzensisches Dauergeknutsche

Highlight des Abends: Ein akrobatischer Pas de deux, in dem die Lippen der Tanzenden durchweg aufeinander kleben: Sehr virtuos, wie Berit Jentzsch im Brückengang und Dario Neumann (ADK) auf allen Vieren stelzen, sie sich winden, drehen und ineinander verknoten, ohne dabei jemals die Lippen voneinander zu lösen. Kein Wunder, dass ihre Mundpartien durch dieses zirzensische Dauergeknutsche am Ende blutrot sind. Theater ist halt Arbeit und tut manchmal auch weh. Was hat das aber mit Parasiten zu tun? Der Professor liefert’s nach: 80 Millionen Bakterien werden allein schon bei einem zehnsekündigen Kuss ausgetauscht. Ja, auch krankheitserregende Bakterien und Pilze leben nur auf Kosten eines Wirts.

Sein Tempo hält der 100-minütige Abend nicht durch. Die letzte halbe Stunde sieht man dem fünfköpfigen Ensemble zu, wie es im Schaukasten - zu Standbildern gefroren - gelangweilt oder bedeutungsvoll in die Leere starrt. Aus dem Off erklingt Prosa (sehr lebendig gelesen von Elmar Roloff): von einer bürgerlichen Kleinfamilie ist die Rede, die von einem Fremden besucht wird, der die Herzen aller - ob Tochter, Sohnemann, Papa oder Mama - erwärmt, um dann wieder abzureisen. Aber dieses Finale bringt nicht mehr Gewinn als ein Hörspielabend vor dem Radio.

Dass dann am Ende ein nicht benannter junger Mann den Applaus anstelle des Ensembles einheimst, lässt freilich ein überraschtes Publikum zurück. „Wo bleiben denn die anderen?!“, ruft eine Dame - genervt von der Konsequenz, mit der das Publikum mit seinem Klatschen allein gelassen wird.