Der Apparat beherrscht alles: Das Hayinger Naturtheater wagt im digitalen Zeitalter einen Blick in die Zukunft. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Fred Keicher

Hayingen - Man muss sich das digitale Zeitalter als Idylle vorstellen. „Älles sicher?“ - die schwarze Komödie des Naturtheaters Hayingen erlaubt einen Blick in die Zukunft. Sie funktioniert schon jetzt (nicht). Die Gesellschaft ist total vernetzt, jeder trägt einen Datenhandschuh, der online Gesundheit und Persönlichkeitspotenzial ermittelt. „Älles mit ällem?“ Total vernetzt? Nein, es gibt sie noch, die zwei Prozent Unsichtbaren, die den sozialen Frieden gefährden. Die die Freude über „25 Jahre Ausnahmezustand“ und „Sicherheit ist Trumpf“ nicht teilen. Auf der Bühne hängen mehr Transparente als im Stadtbild der selig-verschiedenen DDR.

Der Apparat beherrscht alles. Er ist nicht miniaturisiert, sondern mit Röhren, Gülletanks und ähnlichem aufgebläht und raucht und ächzt, ganz wie alle fantastischen Maschinen. Katharina Müller hat das entworfen, ein gelungener Einstand im Team. Brav stellen sich die Einwohner jeden Morgen an die Schnittstellen und lassen unter orgiastischen Zuckungen ihren „Informationsenergielevel“ aufladen.

Kommissarin mit Hayinger Noblesse

„Maximale Sichtbarkeit macht maximale Sicherheit“ singen alle beglückt, herausragend Galaxia im Rokoko-Kostüm, Eva Schleker, singt mit koketten Trillern. Stefan Wurz, der musikalische Leiter, hat ein Liedchen voller schmalziger Verehrung geschrieben. Natürlich hat das System auch eine Geheimpolizei, die mit Argusaugen vom Bühnenrand her wacht. Mancher Traktorauspuff hat hier eine Abschlussverwendung als Theaterfernrohr gefunden.

Alles könnte wirklich seinen ordentlichen Gang gehen. Da fällt der Schuss: Sunbeam Ikarus wird erschossen. Er ist einer der „Optimum 5“, der großen Fünf, die sich die Macht teilen. Das ist eine Art Zentralkomitee, nur dass in Hayingen die Frauenquote 40 Prozent beträgt und alle sehr farbenprächtig gewandet sind. Gisela Schleker und die Kostümschneiderei haben wie immer das Beste gegeben. Jeder Apparat hat seine Bürokratie. ASI, ASPO, AIS, AEE oder AMÖ heißen die verwirrend. Letzteres etwa steht für „Agentur für Meinungsbilder und Öffentlichkeitsdarstellung“. Willkommen im postfaktischen Zeitalter.

Uschi Manski (souverän: Gitta Schwörer) übernimmt die Mordermittlungen. Sie macht das mit Hayinger Noblesse, nicht mit Duisburger Brachialität. Sie ist auf deutlicher Distanz zum Apparat: „Freiheit heißt, etwas zu verbergen haben.“ Unterstützt wird sie von den fünf Unsichtbaren. Das sind Staatsfeinde, die sich dem System verweigern. Sie heißen Kommander, Camouflage, Chaos, Demo und Sabotage. Denen gelingt es tatsächlich, den Älles-Apparat zu hacken und für einen Moment auszuschalten. Es könnte die Wende sein. Die Menschen stehen staunend und ernüchtert auf der Gasse und stellen sich fassungslos die Kant’schen philosophischen Fragen: Warum sind wir hier? Was sollen wir tun? Wer sind wir? Die Verwirrung geht schnell vorbei. Der Apparat wird hochgefahren, die Menschen sind wieder glücklich.

Die Ermittlungen nehmen eine überraschende Wende. Wie beim „Tatort“ bringen erst die letzten Minuten das Ergebnis. Auf dem Weg dahin erlebt der Zuschauer auf manchmal langen Umwegen aberwitzige Überraschungen. Den liebestollen Max Mustermann (großartig: Dietmar Landenberger-Edelburg) spannt die raffinierte Camouflage (selbstbewusst: Judith Bühler) seiner Verlobten Rosi aus (hübsch-naiv: Lisa Sulley). Xerberus (in Krawalllaune: Peter Brendler) hat einen großen, schrägen Auftritt, sogar den entscheidenden. Er ist einer von ganz unten („Optimum 0“) und lebt aus den Mülltonnen der anderen. Der gute Dr. Quertz (glücklicher Mitläufer: Rainer Bühler) bohrt erst anderen, dann sich selbst den Dippel, um den Überwachungschip einzusetzen.

Wie immer pflegt das Naturtheater die Hayinger Mundart und die damit verknüpfte sehr besondere Weltweisheit („Wenn’s lauft, dann lauft’s“). Diese 68 Jahre alte Tradition hat die Unesco jetzt gewürdigt und im Dezember das Naturtheater in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Zum zweiten Mal führen jetzt Silvie Marks und Johannes Schleker Regie eines Stückes, das sie selber geschrieben haben. Sie aktualisieren eine lebendige Tradition mit großem Sprachwitz und einem schrägen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen.

Vorstellungen bis 3. September immer samstags, 20 Uhr, und sonntags, 14.30 Uhr, außer 5. und 6. August. Karten unter Tel. (07386) 97 53 75.