Lässt sich durch die Schichtung des Bernsteins inspirieren: Künstlerin Karina Stängle, die in der Künstlergilde ausstellt. Foto: Weber-Obrock Quelle: Unbekannt

Von Petra Weber-Obrock

Bernstein hat etwas Magisches, Mystisches und Archaisches an sich. Über die Jahrtausende hinweg konserviert das sonnengelbe Harz urzeitlicher Bäume nicht nur Insekten und Pflanzenteile vergangener Epochen, sondern dient als Projektionsfläche unserer Imagination. Seit vielen Jahren lässt sich die Esslinger Künstlerin Karina Stängle von den ebenso leichten wie kostbaren Tränen der Bäume inspirieren. In ihren Bildern setzt sie die optischen Anregungen in eine abstrakt-expressive Formensprache um, schwelgt in der Vielfalt der Gelbpalette, die sie mit Weiß und Grau kontrastiert und legt ein zartes Netz filigraner schwarzer Linien über die oft haptisch anmutende Oberfläche. Dass beim Betrachten ihrer Arbeiten wiederum figurale und gegenständliche Assoziationen entstehen, die auf Mythen rund um den Bernstein zurückverweisen, liegt in der Intention der Künstlerin.

Eine große gelbe Fläche entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Männeransicht im Profil. Es ist ein König, dem eine Nixe oder Prinzessin im Kopf herumspukt. „Das ist der alte König Perkunas, der an seine Tochter Jurate denkt“, erklärt Karina Stängle. Der Donnergott war über die Liebe der Prinzessin zu einem armen Fischer so erzürnt, dass er ihr Bernsteinschloss auf dem Meeresgrund zerstören ließ. Seine Trümmer spülen noch heute an die baltische Küste, weshalb man die kleinen goldgelben Brocken auch „Tränen der Jurate“ nennt.

Karina Stängle ist in Königsberg geboren, hat die Länder des Baltikums mit der Bernsteinküste oft bereist und einige kulturelle Kontakte zwischen Esslingen und Lettland geknüpft. Noch bis zum 11. März widmet die Künstlergilde ihr unter dem wegweisenden Motto „Harztöne“ eine kleine, aber feine Werkschau dieser Schaffensperiode in ihrem neuen Präsentationsraum am Hafenmarkt 11. Zur Vernissage am Samstag waren so viele Gäste gekommen, dass der von der Strohstraße aus zugängliche Raum beinahe aus allen Nähten quoll. Hansjürgen Gartner, der Bundesvorsitzende der Künstlergilde, würdigte die Künstlerin: „Sie ist dem Bernstein regelrecht verfallen.“ Er schilderte einige Aspekte des Materials, das lange mit Gold aufgewogen wurde. Stängles Werke entstünden aus der Wahrnehmung und Transformierung der Natur, bei der Flächen in Dialog mit Linien träten. Zum Schluss attestierte er den Arbeiten eine „sehr, sehr positive Wirkung.“

Die kulturgeschichtlichen Dimensionen des Bernsteins stellte dann Rainer Goldhahn, der Fachgruppenleiter Literatur der Künstlergilde, in den Fokus. Bernstein sei schon im alten Ägypten ein begehrtes Handelsgut gewesen, das zu regem Austausch zwischen Nord und Süd führte. Neben der Sage von Jurate ging er auf den Sonnenwagen des Phaeton ein, auf den sich in den Bildern ebenfalls Verweise finden, und schilderte die Geschichte des Bernsteins bis zum Bernsteinzimmer des Preußenkönigs Friedrich I. Karina Stängle lässt sich in ihrer Gestaltung vor allem durch die Schichtung des Bernsteins inspirieren. „Die Bruchstellen übertrage ich im Kopf auf Flächen und Linien.“ Die Flächen werden dabei in feinen Schichten aufgebaut, denen collagiertes Material wie Zeitungsschnipsel aber auch Bernstein als Pigment zugefügt werden kann. Die figürlichen Assoziationen tauchen beim Betrachten wie zufällig auf. Der mythische Anspruch ergibt sich wie von selbst.

Die Ausstellung ist in der Geschäftsstelle der Künstlergilde, Hafenmarkt 11 (Eingang Strohstraße), bis 11. März zu folgenden Terminen zu sehen: 20. Januar, 4. und 18. Februar, 3. und 11. März, in Anwesenheit der Künstlerin jeweils von 15 bis 18 Uhr.