Gitarrist Ron Wood, Sänger Mick Jagger, Schlagzeuger Charlie Watts und Gitarrist Keith Richards (von links) machen so manchen Jungmusikern in puncto Vitalität und Frische auch über 70 noch etwas vor. Foto: dpa - dpa

Das britische Altrocker-Quartett Rolling Stones begeistert auf seiner "No Filter"-Tour in der Mercedes-Benz Arena in Stuttgart.

StuttgartAls kleiner Junge ist Obelix bekanntlich in einen Kessel voller Zaubertrank gefallen. Seitdem ist der „dicke“ Kumpel von Asterix, dem Gallier, mit Riesenkräften gesegnet. Die Rolling Stones scheinen auch irgendwann in einen Zaubertrank gefallen zu sein: in einen, der sie nicht altern lässt. Vielleicht haben sie auch einen faustischen Pakt geschlossen, gemäß ihrem obszönen Lockruf für den Leibhaftigen, dem berühmten Song „Sympathy for the Devil“ (1968), den sie nach exakt einer Stunde Spielzeit am Samstagabend in der Stuttgarter Mercedes-Benz-Arena auf der in blutrotes Licht getauchten Bühne anstimmen. Vielleicht dürfen sie, Huuuh huuuh!, nicht aufhören zu spielen – im Gegenzug für ihre Unsterblichkeit.

Bereits das Konzert 1993 auf dem Cannstatter Wasen stand für viele Fans unter dem Motto: Jetzt oder nie! Doch das Leben respektive die Stones selbst straften die Fans Lügen. 25 Jahre später pilgern 43 000 Fans erneut zu den Stones, zum dritten Mal im Stuttgarter Stadion, das jedes Mal einen anderen Namen trägt. Die Tour heißt „No Filter“, und Rauchen ist ja bekanntlich tödlich – doch ob dies der letzte Auftritt der Stones in Stuttgart war?

Frisch, vital, zeitlos

Denn so frisch, so vital, so zeitlos, so energiegeladen und berstend vor Spiellaune wie sich die Briten gebärden, kann von Abschied keine Rede sein. Die Stones, im Schnitt mittlerweile 73, sind, anders kann man es nicht sagen, alterswild! Die Rente kann warten, das Altersheim sowieso. Das einzige, was „alt“ ist an den Stones, sind deren Falten. Mit Mitte 70 zwei Stunden hochleistungssportlich zu performen, das nötigt den allerhöchsten Respekt ab.

Die Frage vor dem Konzert war ja berechtigt: Bringen die alten Kerle es überhaupt noch? Und wie! Sie rocken, dass es eine wahre Wucht ist. So grandios und so majestätisch wie selten zuvor. Sie waren und sind die größte Rock'n'Roll-Band. Mit „Street Fighting Man“, ihrem vielleicht politischsten Song, stürzen die Stones regelrecht auf die ausladende, Stahl-Glasdach-bewehrte Bühne. Mit „It’s only Rock'n'Roll (but I like it)“ und den zeitlosen Licks von „Tumbling Dice“ geht die Sause stürmisch weiter. Danach folgt ein kurzer Einschub. „Ride ’em on Down“ stammt vom immer noch aktuellen Coveralbum „Blue & Lonesome“ (2016), dem bisher letzten Studioalbum. Das wild-witzige Jimmy Reed-Cover enthüllt die frühen Blues-Einflüsse der Band und die Stones spielen es so „schwarz“, fast mit derselben religiösen Inbrunst wie seinerzeit ihre Kirchenväter. Mick Jagger heult dazu auf der Mundharmonika.

Phänomenaler Auftakt

Schon der phänomenale Auftakt macht deutlich: Am musikalischen Nimbus dieser Band ist nicht zu kratzen. Vor allem in den 1980er-Jahren als schlechte Live-Band verschrien, setzen die Stones heute auf eine fast furchterregende Professionalität in allen Entertainment-Belangen. Wo einst das Mäntelchen der Sanftmut über die Band ausgebreitet wurde, wird heute das Schwert zum konzertanten Ritterschlag gezogen. Die Bühne ist formidabel gebaut, auf Spezialeffekte und Blendwerk wird gänzlich verzichtet, und der Sound ist für Arena-Verhältnisse überragend und glasklar. Sieben Begleitmusiker unterstützen das Quartett, instrumental allen voran die bewährten Fachkräfte Darryl Jones am Bass und Keyboarder Chuck Leavell. Aber nur da, wo nötig.

Denn jeder einzelne „Stein“ ist für sich ein Diamant! Mick Jagger, demnächst 75. Hier unfassbar schmale Hüften, dort ungewöhnlich gesprächig, auch auf Deutsch („Guts Nächtle“). Hier exaltierte Bewegungen, tänzelnd und kreiselnd, dort große Wegstrecken zurücklegend. Das großgockelige, überkandidelte Diven-Gehabe weicht in dieser lauen Sommernacht einer magischen Performance. Seine Agilität ist bewundernswert, er bläst die Mundharmonika, als wäre er wirklich arm und die Baumwollfelder begännen gleich draußen am Neckar, und seine Stimme ist so volltönend wie die Trompeten, die einst die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten. Nicht zu vergessen sein britischer Humor: Einmal trägt er, zwischen mehreren bunten Hemden, ein schwarzes T-Shirt, auf dem schlicht „Stones“ steht. Falls ein Zuschauer vergessen haben sollte, wo er hier ist.

Knorriger korsischer Ziegenhirte

Jaggers getreuer Sidekick – oder andersherum – Keith Richard (74) ist die optische Sensation. Ein Gesicht wie ein knorriger korsischer Ziegenhirte. Er ist, nun ja, mittlerweile so bewegungsfreudig wie ein Stein, der nicht mehr rollen mag, trotz giftgrünen Sneakers. Augen auf, und er schaut aus wie 100. Augen zu, und er klingt wie 20. Denn seine Gitarren spielt Keith rotzig, klampfeslustig und messerscharf. Ein ums andere Mal schleudert er seine dreckigen Riffs hinaus, dass es eine wahre Freude ist. Um Jagger eine Pause zu gönnen, singt Richards wie immer zwei eigene Stücke allein: das bluesige Akustik-Stück „You got the Silver“ und das feurige „Before they make me run“, das in seiner Einfachheit und Arglosigkeit wunderschön ist, auch wenn Richards Stimme hier kratzt.

Richards bleibt der Höhepunkt der Rock'n'Roll-Pracht, sein Saiten-Partner Ron Wood (71) der fröhlichste Geist der Nacht. Trotz seiner Lungenkrebs-Erkrankung fegt er – von Jagger als „Meister der Kehrwoche“ tituliert – lachend und ausgelassen über die Bühne. Beim extrem giftigen „Paint it Black“ (1966) mit seinem berühmten Sitar-Riff spielt er die Hauptrolle. Eine Augen- wie Ohrenweide ist Charlie Watts (77), den Jagger als direkt „aus dem Mercedes-Benz-Museum“ kommend vorstellt. Stoisch, distinguiert, sitzt er hinter seinem Schlagzeug, der Prinz Philip des Trommelns, sein weißes Architekten-Hemd behält er den ganzen Abend an. Aber präzise und mühelos-lässig zugleich hält er selbst schwierige Rhythmen und sorgt für ungemeinen Groove.

Rollen und rocken und rollen

Zu viert rollen und rocken und rollen sie. Vier Männer, vier Freunde mittlerweile, herzliche Innigkeit und pure Spielfreude, die man auch aus großer Entfernung hautnah sehen kann. Vier in ihrer Brillanz beeindruckende Videowände, die fast bis rauf zum Stadiondach ragen, zeigen jeden dieser herrlichen Kerle mit den herrlichen Lach-Falten in voller LED-HD-Pracht. Zusammengeschaltet, mal bunt, mal schwarzweiß, mal mit Zuspielern vermengt, bilden sie die gigantische Kulisse für wundervolle Impressionen.

Doch an diesem großartigen Abend steht die großartige Musik im Vordergrund. 17 famose Songs, ohne nennenswerte Verschnaufpausen und in superben Versionen zelebriert, umfasst die reguläre, mit Klassikern gespickte Setliste. Wo anfangen, wo aufhören? Beim vom Publikum gewünschten „Let´s spend the Night together“ oder dem Bob Dylan-Cover „Like a Rolling Stone“? „Honky Tonk Women“ gerät ekstatisch und lässt das ganze Stadion tanzen. Räudig und anarchisch interpretiert schaukelt sich „Sympathy for the Devil“ auch dank eines teuflischen Bühnenbildes zu einem der Höhepunkte empor. Bei „Start me up“ und „Jumpin’ Jack Flash“ gibt es kein Halten mehr. In großer Besetzung legen sie „Miss you“ tief in den Disco-Groove. Normalerweise ein Must-Play-Song, der irgendwie durchläuft, hauchen die Stones dem Song eine fantastische Eigenwilligkeit ein. Der Bass entfesselt eine Funk-Einlage, das Saxophon soliert unter die Haut, derweil auf der vorgelagerten Mini-Bühne Richards bunte Akkorde unterjubelt, Jagger wie ein Verrückter tanzt, und Wood seine Stratocaster zum Weinen bringt.

Fabelhafte Momente

Ähnlich fabelhafte Momente gibt es, wenn die Stones die Arena in eine Sumpflandschaft verwandeln, wenn es schwül wird und die Luft flirrt. Sie bringen eine unglaublich intensive und ausgedehnte Version von „Midnight Rambler“ (1969). Die Lust, Straßen in Feuer zu legen, dieses lässig-böse Vorwärtsdrängen ist förmlich zu spüren. Jagger springt und duckt sich auf den T-förmigen Laufsteg, der weit in den Zuschauerraum ausgreift, derweil der Rest der Band sich in einem engen Kreis in tiefer Blues-Meditation formiert. In dem Moment vermitteln die Stones der Arena das Gefühl, ein kleiner Blues-Club zu sein. Sie verabschieden sich mit einem verlängerten „Brown Sugar“. Jetzt ist keine Show mehr, der größt- und bestmögliche Stones-Zustand ist erreicht. Der zeit- und alterslose Rock'n'Roll lebt nicht nur, er bebt. Für viele der Fans sind die Stones ein Lebensbegleiter. Ein Stück Lebensgefühl, das einen seit Schülerzeiten begleitet und nie im Stich ließ.

Als erste Zugabe spielen die Stones ihren vielleicht größten Song: „Gimme Shelter“ (1969). Jagger, ganz vorne am Steg stehend, singt das Lied im Duett mit der sehr guten Backgroundsängerin Sasha Allen. Und dann kommt, was kommen muss: Keith Richard peitscht das Intro zu „Satisfaction“ (1965) in die euphorisierte, singende Menge. In Stuttgart ist es 22.46 Uhr, als Richards unter dem mittlerweile pechschwarzen Nachthimmel das Rockolympische Feuer entzündet. Der erste Nummer eins-Hit der Stones in den USA gilt als einer der besten Rocksongs aller Zeiten. Für die Stones ist es eine Rückkehr zu ihren Wurzeln. Der mit minimalen Knalleffekten endende Schlussakkord ist der neunzehnte Grund, warum die Rolling Stones die größte lebende Rock'n'Roll-Band der Welt sind.

Ruppig, rau, authentisch

Das zweistündige, kurzweilige Konzert ist nur ganz wenig Spektakel, dafür aber ein brillantes, überbordendes Rock- und Blues-Stadionkonzert. Ruppig, rau, authentisch, ohne Filter eben. Die Unverwüstlichkeit der Stones ist unfassbar, die Unverwüstlichkeit ihrer Songs ebenfalls. Wer diese Band aufs Altenteil wünscht, hat keinen Schimmer von Rockmusik. Wie jener Kritiker, der 1973 in der FAZ schrieb: „Wenn er (Mick Jagger) in irgendein Nirwana entschwebte, wäre die Pop-Musik nicht ärmer.“ Oh doch.