Ursache oder Wirkung, Henne oder Ei? Diese Hühner haben gewiss nichts mehr gelegt. Trotzdem ist es da, das Ei. Das Bild zeigt eine Bühneninstallation aus „Uraufführung“. Foto: JU - JU

In der Uraufführung ihrer „Uraufführung“ greift das Theaterkollektiv Hofmann&Lindholm in der Stuttgarter Spielstätte Nord auf Goethes „Faust II“ zurück und bezieht ihn auf die Online-Gegenwart.

StuttgartWas haben der liebe Gott, Donald Trump und das Theaterkollektiv Hofmann&Lindholm gemeinsam? Die Wirkung ohne Ursache. Der HERR schuf die Schöpfung aus dem Nichts, der US-Präsident Massenwirkung aus Hohlheit, das Kollektiv ein Theaterstück, das nur in der Erinnerung existiert. Klingt kryptisch? Ist es auch. So kryptisch wie die sogenannte Mütterszene aus Goethes „Faust II“, eine der bekanntesten des Opus magnum. Nur hat sie Goethe nie geschrieben, konnte sie nicht schreiben. Denn: Jene Ur-Mütter gehören nicht der Erfahrungswelt an, sondern gehen ihr und aller Sprache voraus. Sie sind die „Leere“, aber auch eine Lehre, die Faust hoffen lässt, im „Nichts das All zu finden“. Dichtet Goethe.

In ihrem Projekt „Uraufführung“, das jetzt in der Spielstätte Nord des Stuttgarter Staatsschauspiels uraufgeführt wurde, nehmen Hofmann&Lindholm den Dichter beim geschriebenen wie eben nicht geschriebenen Wort. Gemäß der Ankündigung „nach einem Motiv aus Goethes ,Faust. Der Tragödie zweiter Teil’“ wird genau jene nicht existierende Mütterszene zur Matrix eines Theaterstücks, das ebenfalls nicht existiert. Aber der Erklärung bedarf. Und die liefern Hannah Hofmann, Sven Lindholm und die beteiligten Profi-Schauspieler Robert Christott, Roland Görschen und Lara Pietjou dem Publikum vorab auf der Hinterbühne. Ausgehend von ganz realen „Mütterszenen“: Alle Menschen dieser Welt beginnen ihr Leben mit einer Erfahrung ohne eigene Erinnerung – der Geburt. Sie existieren, aber der Beginn ihrer Existenz ist von ihrem Erinnerungshorizont „verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben“. Weil eben Erinnerung von Sprache abhängt. „Uraufführung“ dreht den Spieß herum: Das Stück, das keines ist, handelt von der versprachlichten Erinnerung an ein Ereignis, das es nie gab. Kurzum: Ans Publikum ergeht die Aufforderung, die „Uraufführung“ in „Erzählungen, in den sozialen Netzwerken, in Leserbriefen“ uraufzuführen. „Das Stück beginnt“, heißt es konsequenterweise, „wenn Sie das Theater verlassen haben. Erst Sie machen die ,Uraufführung’ wahr, das heißt: zu dem, was sie nicht gewesen ist.“

Eigentlich könnte es bereits sein Bewenden haben mit diesem zehnminütigen Prolog hinter der Bühne, dieser irgendwie genialen Publikumsverarschung zwischen tiefstem Sinn und höchster Absurdität, wo Goethe die Zunge lang macht und Beckett sie herausstreckt. Aber Hofmann&Lindholm führen ins Feld, wofür sie bekannt sind: die gegenseitige Verblendung von Fakten und Fiktionen, basierend auf einer sozialen Verabredung, der „Konstruktion einer kollektiven, frei erfundenen Erinnerung“. Und dazu bedarf es eines Pakts zwischen Publikum (Faust!) und Theatermachern (Mephisto!), es bedarf eingeweihter Komplizenschaft und bereitwilliger Wahrnehmung, und es braucht manipulierende „Erinnerungsstützen“: kein Theaterstück, sondern Bilder einer Ausstellung, allesamt Assoziationen des Verlöschens, der ursachelosen Wirkung, der Spuren ohne Urheber.

Ein Teil des Publikums wird auf einer Tribüne herumgeschoben, der andere bewegt sich frei zwischen der szenischen Exponatefolge in Julian Marbachs ansonsten leerem Bühnenraum. Und da führen – zum Beispiel – kopflose, gerupfte Tiefkühlhennen und ein Ei die bekannte Allerweltsfrage (Was war zuerst?) ad absurdum. Unter der Lupe darf man fleischfressende Pflanzen beobachten und füttern, ein (echter, aber unhöllisch weißer) Hund hechelt sieben Mal über eine Bodenmatte. Der Abstieg (zu den „Müttern“) findet zwischen Lebensmittelresten statt, der Aufstieg auf Kieser-trainingsartigen Folter-Stahlskulpturen. Und als Pakt-Signatur fließt (Theater-)Blut, Goethes „ganz besonderer Saft“, aus Fingerspitzen und Pulsadern, wird mit weicher Masse verquirlt und per Wurstmaschine in Därme gepresst. Am Ende gibt’s dann Blutwurst bei der geselligen Runde im Foyer, dem eucharistischen Mahl der Verbündeten.

Unweigerlich gehört man zu ihnen, wird zum Komplizen, erst recht als Rezensent; auch wenn man nicht, wie der (echte) Kollege, sich von einem (echten) Anästhesisten in (unechte) Vollnarkose versetzen lässt, um die „kritische Urteilskraft“ auszuschalten. Vorher wurden lobende Rezensionen über die „üppigen Landschaften“, die „Bildgewalt“ der „Uraufführung“ zitiert: Fake news, versteht sich. Und genau darum geht es: Selbst im Vollbesitz kritischer Urteilskraft beteiligt man sich durch bloße Nacherzählung an der Produktion von Sinnillusionen aus Nichts. Diese Masche ist lückenlos, Hofmann&Lindholm haben damit – siehe Trump – ein Kommunikations- und Propagandaschema entlarvt: im Zeitalter der Online-Fake- und -Echoräume vielleicht das einzige wahre politische Theater.

Die nächsten Vorstellungen: 25. März, 11. und 25. April.