„Grand Finale“ - Weltuntergangsvision zu harten Rhythmen und Wiener Walzern. Foto: Rahi Rezvani Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Wer alles mitnehmen will bei Eric Gauthiers Tanzfestival im Theaterhaus, der hat echt zu tun, so dicht hintereinander prasseln die spannenden Werke auf die zahlreichen Zuschauer ein. „Gute Pässe schlechte Pässe“ etwa, eines der Lehrstücke der Tanzregisseurin Helena Waldmann, deren Thema hier die nationalistische Abgrenzung ist.

Wieder stehen künstlerische Stilrichtungen als Chiffren für menschliche Haltungen, hier treten Zirkusartisten gegen moderne Tänzer an, getrennt von einer Mauer aus ganz normalen Leuten, die später den Artisten im wahrsten Sinne des Wortes „die Stange halten“, an der sie ihre tollen Tricks absolvieren.

Die zeitgenössischen Tänzer brüllen „Nieder mit Spektakel!“, die Artisten wiederum wehren sich, wenn sie kopiert werden - jede vorsichtige Annäherung endet in Gegenwehr, mit körperlicher Gewalt beschützt jeder das, was ihn besonders macht: Aha, so entsteht Nationalismus.

Waldmann setzt ihre Stücke aus Anspielungen und Symbolen zusammen, Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre etwa steht für feierliche Deutschtümelei, der Michael-Jackson-Song „We are the world“ für pathetisches Gutmenschentum, ihre Darsteller bauen ikonische Bilder der Zeit- und Kunstgeschichte nach. Dabei fällt es schwer, unter all dem Herbeizitierten und Angezweifelten das Gute zu sehen, die Moral; die Regisseurin macht Tanztheater für Intellektuelle, wo man vom Gesehenen ständig abstrahieren muss - eine Ausnahme unter den bisher stets durch die Kraft der Bewegung überzeugenden Stücken des Festivals.

Emotionale Urkraft

Aber genau das macht Colours aus: Dass man zwei Stockwerke tiefer das Gegenteil sieht, die emotionale Urkraft einer ganz persönlichen Stimme. Francesca Harper, einst Tänzerin in William Forsythes legendärem Frankfurt Ballett und später am Broadway, entpuppt sich als wahres Multitalent. Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter Denise Jefferson, einer wichtigen Figur des schwarzen Tanzes in den USA, berichtet vom ganz normalen Rassismus, tanzt ins Paris der 40er-Jahre, singt Jazz und Puccini oder macht aus der Entscheidung über eine Chemotherapie eine Stepptanzeinlage. Ein wenig wirr in der Struktur, aber überlebensgroß in den Emotionen, ist das Porträt einer starken Frau vom „I have a dream“-Pathos der Bürgerrechtsbewegung durchdrungen, das einen unwillkürlich mitreißt.

Es ist das Festival der starken Frauen: Ganze 58 Jahre alt ist Louise Lecavalier, die einst als Frontfrau von Edouard Locks Kompanie La La La Human Steps zur virtuosen Ikone des modernen kanadischen Tanzes wurde und nun ihr eigenes Ding macht, eine Art Minimalismus auf Speed. Wie ein lyrischer Presslufthammer, zu unablässig treibenden Beats weht in „Battleground“ eine nervöse Amazone durch die Großstadt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Manchmal treibt sie wie ein Blatt im Wind vor der hohen Holzwand, rennt wie eine Getriebene unablässig auf der Stelle, immer ein Ziel vor Augen und doch planlos, kraftvoll und doch verloren. Später stößt ein Mann dazu, er stützt und trägt sie, aber es sind eher zufällige Begegnungen, sie taumeln wie zwei Hineingeworfene aufeinander zu. Ist das Leben nur leerer Aktionismus, ist vielleicht der Weg das Ziel und wir erkennen es nicht? Mit ihrer Unruhe, ihrer Intensität wühlt Lecavalier Fragen auf, die mit einer Art resignierten Ruhe enden.

Deutlich mehr Wumm

Um die letzten Fragen der Menschheit ging es auch bei Hofesh Shechter, aber mit deutlich mehr Wumm - der israelische Choreograf mit Wohnsitz in London, der 2021 eine Uraufführung für Gauthier Dance machen wird, brachte sein neuestes Werk „Grand Finale“ mit, eine Weltuntergangsvision zu harten Rhythmen und Wiener Walzern (genau wie bei Lecavalier waren auch hier Live-Musiker dabei).

Alles ist da, was man von Shechter kennt: die Dunkelheit, die unheimliche Beleuchtung, die heftigen, rauen Gruppenchoreografien, die Atmosphäre von Chaos, Rebellion, Gewalt. Aber dann taucht immer wieder mal ein kleines Streichorchester auf zwischen den schwarzen Monolithen, die aussehen wie Beton-Barrikaden, wie ein Wiegenlied wabert ein Tschaikowsky-Andante durch die Dunkelheit und singt die wehrlosen Massen zu Grabe. Die ersten leblosen Körper tauchen auf, werden hilflos herumgezerrt, weggeräumt, in den Armen gewiegt. Eigentlich sind wir alle tot, aber wir stehen immer wieder auf und taumeln weiter mit im Chaos des Untergangs, recken Arme und Köpfe nach oben, ergeben uns fast begeistert dem stampfenden Rhythmus der Apokalypse.

Mit Franz Lehars „Lippen schweigen“ mutiert das Salonorchester zur Weltuntergangskapelle der Titanic, irgendwann wird eine Leiche mit dem „Pause“-Schild auf einem Stuhl vor dem Vorhang drapiert. Sarkasmus glimmt auf, aber wenn die willenlose Meute minutenlang wie Zombies mit offenem Mund nach oben starrt und sich im Rhythmus wiegt, wenn sie vor allem im zweiten Teil mit Hingabe in den Untergang rockt, dann bleibt man doch schockiert zurück - eben weil sich bis zum Schluss keiner wehrt. Schnappschussartig, in ein paar leisen Endzeitbildern fasst das Finale von „Grand Finale“ all die wiederkehrenden Motive des Stücks noch einmal auf kleinstem Raum wie in einem lichtlosen Bunker zusammen. Das Knien vor der Wand, die Leichen, ein Kuss: Wir hätten es die ganze Zeit wissen müssen, hätten die Zeichen erkennen müssen. Die betroffene Stille vor der Standing Ovation war lang.

Das Tanzfestival Colours dauert noch bis 23. Juli.

www.coloursdancefestival.com