Die Adlerin ist verklemmt im Gitter: Foto: Bernd Uhlig - Bernd Uhlig

Andrea Breth inszeniert Luigi Dallapiccolas „Der Gefangene“ und Wolfgang Rihms „Das Gehege“ an der Stuttgarter Oper.

StuttgartAnita von Schastorf hat ihrem Vater eine Widerstandslegende gezimmert. Tatsächlich aber beschränkte sich „seine subversive Tätigkeit im wesentlichen darauf, einigen oberen NS-Chargen Hörner aufzusetzen“. Die schöne Endvierzigerin, Tochter eines altpreußisch-konservativen Junkers und offenbaren Schürzenjägers, hat sich ein Vater-Bild gemacht, das ein kritischer Zeithistoriker flugs durchkreuzt. Diese Dialogpassage aus Botho Strauß’ „Schlusschor“ wirft ein ironisches Licht auf die unmittelbar folgende letzte Szene dieses Theaterstücks: In einer Real-Allegorie – es ist die Nacht des Mauerfalls – dringt Anita in den Berliner Zoo ein, schneidet ein Loch ins Gitter der Adler-Voliere und balzt mit dem deutschen Wappentier um Liebe oder Vernichtung, um erotisch grundierte Wiedervereinigung mit dem Urdeutschen. Im Bild der Sodomie dringt mythische Archaik durch, der Koitus von Tiergott und Mensch, wie einst bei Zeus und seinen Buhlschaften, lädt sich politisch-reaktionär auf. Nur bietet der vom Reichs- zum Bundesadler erschlaffte Nationalvogel keine Gewähr mehr für autoritäre Herrschafts- und devote Unterwerfungslüste, für die Imagination der stramm-deutschnationalen, von der Nazi-Schande gesäuberten und inzestuös begehrten Übervater-Figur. Finale letale gemäß Sigmund Freud: Statt den Zoo-Adler zur Wildheit zu befreien, schlachtet und verzehrt Anita das wappenzierende Totem-Tier.

Bizarres Begehren

Bei Strauß ist das nicht die Propaganda (wie dem Autor oft unterstellt wird), sondern die Demonstration und ironische Demontage einer politisch-sexuellen, aus der Finsternis des Verdrängten hervorquellenden deutschen Nationalmystik. Bei Wolfgang Rihm, der in seinem Monodram „Das Gehege“ den Schlussmonolog der Anita vertont hat, werden die Bezüge gekappt, das Stück fällt zurück ins Psychodrama eines bizarren Begehrens aus dem Geist von Décadence und Fin de siècle. 2006 wurde es bei der Uraufführung in München (un-)sinngerweise gekoppelt mit der „Salome“ von Richard Strauss. Die politische Allegorie verwandelte sich in eine andere Femme fatale, die halt nicht das „Haupt des Jochanaan“, sondern Kopf und Gefieder des Adlers verlangt.

Die Regisseurin Andrea Breth hat in einem Doppelabend, der im Januar in Brüssel herauskam und jetzt an der Stuttgarter Oper Premiere hatte, Rihms „Gehege“ aus der fatalen Umklammerung befreit und einen anderen Operneinakter vorangestellt: Luigi Dallapiccolas „Der Gefangene“ von 1949. In strikt symmetrischer Umkehrung und mit exakten bildlichen Bezügen fokussiert Breth die beiden Stücke auf eine existenzielle Kernaussage: In einer Welt als Gefängnis ist die Illusion der Freiheit die schlimmste Unfreiheit. Und das sinnbildliche Licht die tiefste Dunkelheit, dunkler als der Kerker. So in trefflicher Symbolik am Ende des „Gefangenen“, wenn sich im hermetischen Beton-Gefängnis des Bühnenbildners Martin Zehetgruber ein Spalt öffnet und gleißendes Neonlicht das Publikum blendet. Es wird einem schwarz vor Augen, alles sichtbare Leben ist ausgelöscht von diesem brutalen Schein – dem Scheiterhaufen, dem der sich in Freiheit wähnende Gefangene übergeben wird.

Dallapiccolas Stück, einst als Anklage gegen Faschismus und Stalinismus verstanden, ist ein absurdes Musikdrama, angesiedelt in der Zeit der spanischen Inquisition. Der namenlose Gefangene scheint im Kerkermeister einen geheimen Verbündeten gefunden zu haben, der ihn mit Hoffnung erfüllt, mit Nachrichten vom Aufstand gegen die Unterdrücker. Als der Wächter die Zellentür offen lässt, flieht der Gefangene durch die unterirdischen Gelasse ins Freie, ans Licht, wo ihn just der vermeintliche Befreier erwartet: Der Kerkermeister ist kein anderer als der Großinquisitor, der sein Opfer nun dem Feuertod ausliefert. Die Maske der Humanität ist das verheerendste Folterinstrument, nur die um ihren Sohn klagende Mutter des Gefangenen erhebt die Stimme der Empathie – und der Angst: einsam und nur als blasses Gesicht im Dunkel der Bühne zu sehen, dann kauernd auf dem Käfig des Sohns , den sie nicht berühren darf.

Breth inszeniert mit konzentrierten Gesten und Konstellationen, mit Blackouts, die für die Momenthaftigkeit der wechselnden und doch immergleichen Situationen der Unfreiheit stehen. Ein Schlüsselbild (wie später im „Gehege“) sind die ins Gitter gekrallten Hände oder die vom manipulierenden Kerkermeister wie Uhrzeiger geführten, in die Haltung eines Gekreuzigten bewegten Arme des Gefangenen. In der Fluchtszene hat Zehetgruber die Käfige zu einem im Raum schwebenden Labyrinth à la Piranesi vervielfacht, und ausgerechnet der wortlose Foltermeister – zynisch Fra Redemptor (Bruder Erlöser) genannt – steigt jene Leiter ins Freie hoch, an welcher der Gefangene scheitert: Die Freiheit inmitten der totalen Unfreiheit ist der Tod.

Umkehrung der Verhältnisse

Im „Gehege“ steigt derselbe Darsteller (Michael Guevara Era) die Leiter kopfüber herab: ein Signalbild für die Umkehrung der Macht- und Geschlechterverhältnisse. Breth lässt fünf Adler auftreten (mit den Sängern nun in stummen Rollen), so dass, wie bei Dallapiccola, eine Frau fünf Männern gegenübersteht. Nur ist die Frau nun die Drahtzieherin in den Phasen des Begehrens, der gewollten Bedrohung, der Vernichtung durch Anverwandlung: Sie selbst wird zum Adler. Wenn sie mit dem Kopf nach unten im Käfig hängt, gleicht ihr Schattenwurf bereits einem Raubvogel. Am Ende krallt sie gefiedert und geflügelt im Gitter, als sei die zur Adlerin Verwandelte im Flug gegen eine Scheibe geklatscht: Die Freiheit – der Tod, auch hier.

Und zu alldem ertönt grandioser Gesang, auf einer Höhe mit der starken, stringenten, konzisen Inszenierung. Die Sopranistin Ángeles Blancas Gulín als Mutter und vor allem in Rihms enorm fordernder Solopartie gestaltet vom gellenden, fanfarenhaften Schrei bis zu feiner Schattierung und leuchtender Legierung die stimmlichen Exzesse mit einer Intelligenz der Einfühlung, einer Klarheit des Timbres und einer Biegsamkeit der Phrasierung, die sich zu bewegendstem Ausdruck fügen.

Georg Nigl als Gefangener verbindet die Extreme von Deklamation und Melos zu einer Seelenschilderung von extremer Intensität – und sein Bariton ist zu allem imstande: vom expressiven Schmelz in den Kantilenen bis zu gemeißelter Prägnanz. Den Kerkermeister singt John Graham-Hall mit gebührend aasigem, aber etwas tremolierendem Tenor. Dirigent Franck Ollu entfesselt mit dem exzellenten Staatsorchester die Höllenschwärze von Dallapiccolas Musik ebenso wie ihre mit kantabler Emotionalität vermittelte Zwölftönigkeit. In Rihms postmodern-raffiniertem Expressionismus-Nachklang feilt Ollu die Stilparodistik aus – etwa Walzermelodik oder vom Wiedervereinigungsjubel herüberstiebende Beethoven’sche Götterfunken – und durchleuchtet kongenial alle Facetten, die Glut und das Beben dieser Ausdrucksmusik. Ovationen vom Premierenpublikum für einen überragenden Doppelabend.

Nächste Vorstellungen: 29. April, 21. und 26. Mai, 9., 16. und 25. Juni.