Aribert Reimann Foto: P. Andersen Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart -Die Spaltung der eigenen Identität in mehrere Identitäten ist ein Bewusstseinszustand, der erstmals in der Romantik künstlerisch thematisiert wurde. Ein Aspekt, den der Komponist Aribert Reimann in seinen Bearbeitungen von romantischen Klavierliedern für Stimme und Streichquartett klanglich herausgearbeitet hat. Auch seine Neuinstrumentierung von „Sieben Lieder von Franz Liszt“ aus dem Jahr 2013 befreit die einzelnen Schichten des Klavierparts aus ihrem engen Verbund, um sie in vier individuelle expressive Stimmen zu überführen. Der Gesang verliert dadurch seine rein solistische Präsenz und gewinnt ein vielschichtig kommentierendes Klangnetz und vielfältige Farben dazu. Im 14. Komponisten-Porträt der Reihe „Musik am 13.“ in der Cannstatter Stadtkirche ging diese wohltönende Klanginsel, gespielt vom Lotus-Quartett, ein wenig unter im Lärm, der vom Open-Air „Cannstatt tanzt“ auf dem Marktplatz ausging. Bariton Frank Wörner hatte aber auch ein bisschen mit der Intonation zu kämpfen.

Der Komponist hatte die Teilnahme am Konzert leider abgesagt. Stattdessen befragte Moderator Björn Gottstein, Leiter der Donaueschinger Musiktage, den Reimann-Kenner und -Freund Axel Bauni, der seit 2003 als dessen Nachfolger die Professur für zeitgenössisches Lied an der Berliner Universität der Künste innehat. Das Lied, die Stimme, die Oper stehen im Mittelpunkt des Reimann’schen Oeuvres. Er wurde 1936 als Sohn eines Kirchenmusikers und einer Sängerin in Berlin geboren und wird heute zu den wichtigsten deutschen Komponisten gezählt. Auf Gottsteins Frage, warum Reimann auf avantgardistische Gesangstechniken verzichte und die Stimme in „gewohnten Bahnen“ sich artikulieren lasse, antwortete Bauni, dass der Komponist in seiner Musik lieber auf sinnliche Erfahrung baue denn auf Gedankenexperimente. Er vertraue auf die Stimme als solches, ließe den Gesangssolisten deshalb auch viele Freiheiten, was zuvor in den neun kurzen Celan-Vertonungen „Eingedunkelt“ für Alt solo von 1992 demonstriert wurde. Der Solistin Yumi Koyama gerieten allerdings die expressiv und mit starkem Vibrato herausgestoßenen Töne oft zu schrill.

Weil Reimann ein Nachfahre von Franz Richarz ist, dem letzten behandelnden Arzt Robert Schumanns in der Endenicher Nervenklinik, war er lange im Besitz der Krankenakte des Komponisten, die er erst 2006 zur Veröffentlichung freigab. Auch deshalb wohl spielt Schumann in seinem Werk eine besondere Rolle, was sich auch im Adagio für Streichquartett von 2006 zeigt, in dem Fragmente zweier Choralbearbeitungen aufscheinen, die Schumann in Endenich notierte. Auch hier verzichtet Reimann bei aller atonalen Harmonik auf avantgardistische Spieltechniken. Unterschiedliche Farbwirkungen erzielte das Lotus-Quartett vor allem durch Flageoletts, Glissandi, harte Pizzicati.

Reimanns Klangwelt wirkt bei aller Farbenfreude immer düster, wie auch der Dialog I für Orgel von 1963, den Peter Schleicher mit viel Gefühl für die dramatischen Feinheiten spielte. Auch im „Nunc dimittis“ für Chor, Bariton und Bassflöte von 1984, bei dem Jörg-Hannes Hahn seinen Chor Cantus Stuttgart leitete, ist das nicht anders. Dass Reimanns Werk jede „Heiterkeit“ fehle und er sich immer wieder mit der „dunklen Seite der Psyche“ beschäftige, dafür macht Bauni die Kriegstraumata des Komponisten verantwortlich. 1945 wurde die Berliner Wohnung der Familie ausgebombt und dabei Reimanns Bruder getötet.