Gut gebrüllt, Pussycat: In Polleschs neuem Stück geht es um Sexismus und das globale Ganze. Foto: Thomas Aurin Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Ein Chor von 15 sehr jungen Frauen, taff uniformiert in grauen Blousons und Faltenröcken, skandiert: „Ich bin der Mann.“ Der phallische Spieß wird umgedreht, „Pussy grabs back“ - die Pussy grapscht zurück. Aus aktuellem Weinstein-Anlass eine feministische Rache am Präsidenten der sexuellen Missbrauchsempfehlung („Greif ihnen an die Pussy. Und dann kannst du alles machen“)? Das wär’s wohl, wenn Volker Lösch Regie führte im Stuttgarter Schauspielhaus, wo er einst Chormeister kollektiver Empörung war. Wir sind aber in René Polleschs Uraufführung „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?“ Und da ist der Anti-Trump-Anpfiff nur eine Episode im rasant rotierenden Steilpass-Spiel mit dem globalen Ganzen. Zunächst mal wird der Ball abgefälscht in die Theater- und Filmrealität.

Röslein rot und rote Zunge

Die Schauspielerin Astrid Meyerfeldt kündet im gezielt grauenhaften Hosenanzug (Kostüme: Svenja Gassen) von einem ganz anderen Pussykätzchen aus einem Hollywood-Rührstück der 50er-Jahre. Und das eigentliche Krallenballen gegen Trump, erklärt Frau Meyerfeldt, sei das (reale) Bühnenbild der (realen) Bühnenbildnerin Janina Audick. Also: ganz hinten ein weibliches Filmikonen-Blowup. Dann: eine riesige, fahrbare Sperrholz-Tatze, die auch als Sitzmobiliar geeignet ist; eine ebenso riesige rote Zunge, die perforierend, penetrierend oder deflorierend durch ein ausgefranstes Loch dringt: vergrößertes Warhol-Schleckerli, das einem alsdann durch den Mund eines bühnenraumhohen, mit kleiner Sozialistenrose markierten Wildkatzenkopfs die Zunge herausstreckt, die einen sonstwo lecken mag.

Götz-von-Berlichingen-Gruß, Anal- und Oralerotik, Kommerz-Sex und Protestrest (das sozialistische Röslein rot) fügen sich zum sinnfreien Anspielungsraum, der Deutungen schon deshalb ausschließt, weil sie Pollesch allesamt für obsolet erklärt. Er wirft wieder den Theorie-Schredder samt gut gebrülltem Tourette-Parlando an, und der speit wundersam eine Art geographische Geschichtsphilosophie als Antwort auf die Faust-Frage nach dem innersten Zusammenhalt aus. Nämlich so: Seit die Apollo-8-Besatzung anno 1968 zum ersten Mal die ganze Erde und damit die ganze Menschheit außer sich selbst fotografierte, sei „das Außen weg“ und „die ganze Expansion geht von nun an nach innen“. Sagt Pollesch. Die innere Selbstrevolutionierung vermittle sich „wesentlich über Kalifornien, wo die westliche koloniale Expassion an ihre natürliche Grenze stieß, den Pazifik.“ Und von dort schwappt sie zurück in „die Innenwelten der Hippies und der Nerds, Phantasien von globaler Verständigung und der Erlösung durch Technologie“. Nix mehr mit Welt und Deutung, alles randlose Innerlichkeit, strukturiert aber nicht durch menschliche Subjekte, sondern durch Dinge, die auf uns zurückgreifen wie die (sexuell) verdinglichte „Pussy“ auf den US-Präsidenten, der selbst nur noch eine „Hippieseele“ ist und „nur noch nach innen expandiert“ (was man wiederum sexuell verstehen darf). Und dieser ganzen neoliberal-sexuellen Kapitalismusinnerlichkeit zeigt Pollesch die rote Zunge.

Äh - muss man das ernst nehmen? Na klar! Polleschs Methode ist die Verwandlung von kritischer Theorie in ironische theatralische Schwebezustände. Deshalb schreibt er keine Thesenstücke, sondern Balanceakte schauspielerischer Rede- und Reaktionsjonglagen - eine Dauersubversion von Sinn- und Realitätsebenen ebenso wie von Rollenfixierungen (Aperçu am Rande: im Manuskript, nicht im Programmheft tragen die Akteure als Vertreter des kosmischen Außenblicks die Namen verdienter Ost-Kosmonauten und einer bundesdeutschen Nachwuchs-Astronautin). Aber was schwebt, ist trotzdem nicht ohne Belang, sondern flirrend-brisanter Denkstoff in den Pollesch-Suaden und ihrer gleichsam musikalisch rhythmisierten Ästhetik. Die in der Stuttgarter Uraufführung - wie immer in Polleschs eigener Regie - hochvirtuos realisiert wird: vom messerscharf skandierenden Frauenchor (Leitung: Christine Groß) wie von den „Solisten“ Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Abak Safaei-Rad, Christian Schneeweiß - und Astrid Meyerfeldt, die als Frau auf der Suche nach Sex in der Bowlingbahn eine grandiose Solonummer hinlegt: doppelsinnig in der Darstellung allzumenschlicher Gefühlsrestbestände und ihrer Verzeichnung zum „surrealen“ Zerrbild sexueller Projektionen.

Manchmal läuft die Masche leer

Verkocht mit der Rezeptur des Retro-Pop, der Film-Anspielungen (namentlich auf Louis Malles „Mein Essen mit André“ und John Cassavetes’ „Gloria“) und der Revue (mit dem Chor als 70er-Jahre-Fernsehballett) serviert Pollesch sein in Stuttgart bestens eingeführtes Theaterformat, das auch diesmal eifrig bejubelt wird. Und fürwahr zündet die Methode ihren ganzen Witz - so sie sich nicht in der eigenen Masche verheddert. Das ist selbst auf der gut einstündigen Kurzstrecke bisweilen der Fall, und dann hilft keine Ironisierung, kein Stoßgebet an den heiligen MacGuffin (wie Hitchcock beliebige, aber die Handlung weitertreibende Objekte nannte): Die Dinge schlagen dann auf ihre Weise zurück, indem sie ausbleiben. Die Masche läuft leer.

Die nächsten Vorstellungen: 4., 17. und 24. November, 1., 10. und 18. Dezember, 4., 12. und 23. Januar.