Szene aus „Die Auferstehung“ mit (v.l.) Martin Theuer (Fred), Gesine Hannemann (Franziska), Boris Burgstaller (Uli) und Sabine Bräuning (Linda) Foto: Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Esslingen -Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Und manchmal auch von Untoten, wie man in Karl-Heinz Otts Familienroman „Die Auferstehung“ lernen kann. Im Esslinger Schauspielhaus wurde jetzt Otts Roman in einer Theaterfassung von Matthias Fontheim uraufgeführt.

„Er sieht so gut aus“, „so friedlich“, finden die angereisten Kinder und Schwiegerkinder beim Anblick des Alten, der die ganze Zeit über leblos in einem Nebenraum des Wohnzimmers auf einer roten Couch liegt. Von Tochter Linda sind die Geschwister erst vor wenigen Stunden zusammengetrommelt worden, die vier treffen sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder im elterlichen Haus. Was sie nicht hindert, ziemlich schnell vom Pietäts- in den Aggressivitätsmodus umzuschalten. Ungeniert wird an der noch nicht erkalteten Leiche des Vaters gestritten und geschäkert und über alles mögliche palavert - über „postmortale Defäkation“ zum Beispiel und über die weniger appetitlichen Auffindeumstände: Man hat den Vater mit offenem Hosenladen aufgefunden, „musste ihm sein Ding regelrecht reinschieben“.

Die „ungarische Hure“

Vor allem geht’s bei dieser hektisch einberufenen Familienkonferenz natürlich ums Erbe. Das ist akut bedroht, wie sich herausstellt. Der Herr Papa, vom Johannistrieb gestochen, ließ es als Witwer auf seine alten Tage offenbar erotisch noch ordentlich krachen und sich von seiner osteuropäischen Pflegerin nicht nur seine Parkinson-Zipperlein kurieren. Womöglich, mutmaßt die erregte Brut, wurde seine „sexuelle Hörigkeit“ durch die Krankheit noch stimuliert. Jedenfalls steht zu befürchten, dass die „ungarische Hure“, wie sie hier von allen nur genannt wird, mittlerweile nicht bloß im Besitz des Feriendomizils am Lago Maggiore ist. Vielleicht hält die Pfleg- und Buhlschaft des Vaters auch schon die Hand auf das elterliche Haus in Geigingen unweit von Ulm, in dem man sich jetzt versammelt hat.

Gewissheit soll ein gewisser Max Schmeler bringen. Noch so eine Unperson im Hause Nido. Ausgerechnet ihm, der hier nur noch als „das Schwein“ firmiert, nachdem der Nachbarsjunge von einst, inzwischen zum Karrierejuristen mit Kanzleisitz in München aufgestiegen, seine Verlobte Linda im Urlaub gegen eine Andere ausgetauscht hatte, hat der Familienpatriarch das Testament anvertraut. Zuvor hatte Linda versucht, ihn zu entmündigen. Um endlich Klarheit zu bekommen, hat man die persona non grata aus München herzitiert. Auf diesen Max warten die Best-Ager nun wie in Becketts „Godot“ eine geschlagene kleine Ewigkeit und vertreiben sich die Zeit mit aufgewärmten alten Geschichten, Vorwürfen und absurden Diskursen über Gott und die Welt, Fegefeuer und Friedwälder, Erbschaftsteuern und Pflichtanteile, Erd- und Seebestattungen. Als der Testamentsvollstrecker endlich eintrifft, gibt es statt der erhofften Erlösung neue unschöne Überraschungen im Wohnzimmer der Familie Nido zu hören und zu sehen.

Bühnenbildnerin Elisabeth Pedross hat das Wohnzimmer im Hause des ehemaligen Chefarztes der Ulmer Unfallklinik im Siebzigerjahre-Look gestaltet. Dunkle Holztöne dominieren das Ambiente. Zur Linken ein abgewetztes Ledersofa, hinten eine mächtige Regalwand mit schwergewichtigen Enzyklopädien und einigen Exotica, auf der rechten Seite stehen der Esstisch und das obligatorische Sideboard mit Stereoanlage. Auf den grünen Tapeten sind noch die verklebten Reste feuchter Männerträume zu sehen. Überall abgerissene Porno-Poster. Auf dem Wohnzimmerteppich stapeln sich Leitzordner, in denen die Nachkömmlinge fieberhaft nach Dokumenten des Erblassers suchen - kein Amtsarzt, Pfarrer oder Bestatter darf das Haus betreten, solange der letzte Wille nicht geklärt - und bei Bedarf beseitigt - ist.

Bilder aus unbeschwerten Tagen

Auf drei Stunden hat Matthias Fontheim den 350-seitigen Roman eingedampft. Otts „Auferstehung“ ist mit ihren zahlreichen Dialogen für eine Bühnenversion geradezu prädestiniert. Die nicht weniger zahlreichen Rückblenden hat Fontheim, der bei dieser Uraufführung auch für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, ausgeblendet - bis auf den Vorspann, bei dem über den Vorhang ein Super-8-Filmchen flimmert: unbeschwertes Kindheits- und Jugendzeitkino im Schmalfilmformat, untermalt mit sphärischen Klängen von Pink Floyds „Echoes“.

Die Echtzeitaufnahmen der anschließenden drei Stunden offenbaren dann, sobald der Vorhang fällt, zerbröselnde Familienidyllen, brüchige Lebensentwürfe, gescheiterte Karrieren, Selbstlügen und Doppelmoral. Otts brillante Familienaufstellung bietet auch ein hochnotkomisches Gesellschaftsporträt der Erben-Generation. Die Nido-Nachkommen profitieren von der Gnade der Geburt in Wirtschaftswunderzeiten und hängen Jahrzehnte später ökonomisch irgendwie noch immer am Tropf des erfolgreichen Alleinverdieners, dessen Erbe sie gut gebrauchen können.

Den modernen esoterischen Ritualen können die geistlich entwurzelten Nachachtundsechziger so wenig abgewinnen wie dem kirchlichen „Beerdigungskrampf“ und „Pfaffengeschwätz“. Soll der Alte bei Mama seine letzte Ruhe finden oder pulverisiert in der Donau? Oder soll man die Asche nicht lieber unter den Geschwistern aufteilen, damit „jeder mit seinem Häufchen machen kann, was ihm gefällt“?

Aberwitzig, boshaft und ironisch, bei aller Tragik immer wieder gluckskomisch und mitunter einfach anrührend ist dieses Requiem auf einen Untoten - trotz einiger Längen in Fontheims Theaterfassung. Auch wenn Karl-Heinz Ott keinen Heimatroman im Sinn hatte - als bittere Farce einer im Schwäbischen beheimateten Familie hätte der Regisseur bei den im WLB-Ensemble versammelten Mundart-Kalibern sich ruhig einige Dialekt-Freiheiten herausnehmen können. Sei’s drum. Reinhold Ohngemach als altlinker Rebellenrentner und ehemaliger Heidelberger Studentenanführer Joschi, den die Spielsucht auf kriminelle Abwege brachte (reales Vorbild für Ott ist der 2015 verstorbene Tübinger Studentenaktivist Ali Schmeißner), ist eine Wucht. Ebenso Martin Theuer als trollingersüchtiger Provinzphilosoph und Memminger Volkshochschulleiter sowie Sabine Bräuning als seine Gattin und Kunsthaus-Leiterin - eine ebenso straighte wie hysterische Familienmanagerin und -mediatorin. Boris Burgstaller gibt luftig und leicht den weißgewandeten Ökobruder, Familienvater und Gelegenheitskiffer Uli, der sich auf der Schwäbischen Alb als Werklehrer an einer Waldorfschule verdingt und zusammen mit seiner Hippie-Braut Franziska (passend: Gesine Hannemann) für den Fortbestand der Sippe sorgt. Achim Hall bringt sein Porträt des Paris-Flaneurs, TV-Kulturjournalisten und Pascal-Verstehers Jakob nur unterbelichtet in den Kasten, Marcus Mislins Max kauft man nicht durchgängig den schneidig schmierigen und mediengewandten Staranwalt ab. Dennoch: eine starke Ensembleleistung in einer sehenswerten Dramatisierung.

Die nächsten Vorstellungen: 21. März, 1., 7., 21. und 27. April.