Tanz auf dem Vulkan: Szene aus „Cabaret“ mit (v. l.) . Biana Spiegel, Christopher Wernecke, Amelie Sturm, Harald Pilar von Pilchau, Vasikili Roussi, Daniel Wernecke und Alina Bier. Foto: Sabine Haymann Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Wenn es je eine richtige Zeit gab, diesen 50 Jahre alten Musicalklassiker wieder herauszuholen, dann jetzt: „Cabaret“ spielt am Silvesterabend 1929 und zeigt am Vorabend der Machtergreifung, wie die braven Bürger und wilden Künstler der Großstadt Berlin zwar die Zeichen erkennen, aber einfach nicht aufwachen wollen. Das für damalige Verhältnisse neuartige und ungewöhnliche Musical, komponiert von John Kander und Fred Ebb, bleibt bis heute eines der besten seines Genres: laut und frech im Ton eines Kurt Weill, grell, mitfühlend, erschreckend.

Ulf Dietrich hat die Liebesgeschichte der Nachtclubsängerin Sally Bowles und des amerikanischen Schriftstellers Cliff Bradshaw im Stuttgarter Alten Schauspielhaus mit großer Sorgfalt in Szene gesetzt - nicht als die bunte Nachtclub-Revue, zu der das Stück in der Verfilmung mit Liza Minnelli wurde, sondern eher als nachdenkliches Kammerspiel. Selten hat man in dem oft gespielten Stück so genau auf die Texte der Songs gehört.

Hellsichtiger Conférencier

Den Conférencier des Kit Kat Club, der sonst gewissermaßen außerhalb der Zeit steht und den gefährlichen Tanz auf dem Vulkan kommentiert, verortet die Regie hier fest in der damaligen Zeit: Mit Backenbart tritt der elegante Harald Pilar von Pilchau als verarmter Adliger und Kriegsversehrter an, gibt im Frack den Operettentenor, der grell über die Stränge schlägt, warnt als agiler Kabarettist der damaligen Zeit vor der heraufziehenden Gefahr. Die Inspiration für die weltberühmt gewordene Figur liegt übrigens, wer hätte das gedacht, in Stuttgart: Hier war der Uraufführungsregisseur Harold Prince als junger GI stationiert, hier sah er in einem Nachtclub namens „Maxim“ einen überschminkten, exaltierten Conférencier, den er und Buchautor Joe Masteroff in die Berlin-Geschichten des Vorlagenautors Christopher Isherwood einbauten.

Auf der kleinen Bühne hat Dietmar Teßmann die Szenenwechsel zwischen Nachtclub und der billigen Pension bestens gelöst, hinter Cliffs spartanischem Zimmer suggeriert eine Reihe Mietshausfenster Großstadtatmosphäre und Nicht-wissen-Wollen. Der Kit Kat Club ist nicht die „miese Spelunke“, als die er im Text selbst bezeichnet wird, die Girls sehen adrett und sauber aus, Andrea Heil hat ihnen brauchbare Choreografien geschneidert.

Sally Bowles tritt im originalen Liza-Minnelli-Outfit mit Hut und Strapsen an; mit ihrer großartigen Stimme entwickelt Vasiliki Roussi die exaltierte Sängerin, die so furchtlos in den Tag hineinlebt, anfangs aber fast zu brav. Ganz wunderbar ist Heike Schmidt als berlinernde Pensionswirtin Fräulein Schneider, die bei aller Schnoddrigkeit eine feine Würde bewahrt, wenn sie in der Liebe zu Herrn Schulz (Michael Hiller) aufblüht und dann müde vor der politischen Realität resigniert.

Gerade die beiden Liebesgeschichten untersucht Ulf Dietrich bis ins Detail, so fällt der Abschied von Cliff und Sally sehr verletzend aus. Tilmar Kuhn spielt den Schriftsteller als still die Vorgänge registrierenden Fremden, als genau die „offene Kamera“ der Buchvorlage. Den Titelsong mit der berühmten Zeile „Life is a cabaret“ singt Vasiliki Roussi am Schluss dann nicht als große Shownummer wie Liza Minelli im Film, sondern zeigt ihn als die Stelle, wo die taffe Sally Bowles zerbricht - auch sie ein Symbol für den Tanz auf dem Vulkan und den Willen zum Untergang. Andrew Hannan leitet das kleine Orchester mit originalem Nachtclub-Kapellen-Sound, findet aber auch zarte Walzergeigenklänge für das ältere Paar. Gesungen wird durchweg bestens, stets mit dem charakteristischen Stil für die jeweilige Figur.

Obwohl man ja weiß, wie die Geschichte ausgeht, lullt einen „Cabaret“ bis fast zur Pause in der sorglosen Amüsierwut der Weimarer Republik ein. Erst als sich der freundliche Ernst Ludwig als Nazi entpuppt, als hinter dem jüdischen Obstladen die Hakenkreuzflagge aufzieht und sich die Hitlergruß-Arme ins Publikum recken, schrecken die Zuschauer auf - auf der Bühne wie im Auditorium. Dass Sich-Wegducken nicht geht, dass die Haltung „Es wird schon vorbeigehen“ keine Option mehr ist, das zeigt das Alte Schauspielhaus hier mit dem zweiten politischen Weihnachtsmusical in Folge. Auch so kann man Unterhaltung machen: Respekt!

Vorstellungen bis 27. Januar täglich außer sonntags .

www.schauspielbuehnen.de