Das Bild mit Ariane Gatesi als Gretel und David Niyomugabo als Hänsel zeigt eine in Ruanda gedrehte Szene aus Kirill Serebrennikovs Film, der im Mittelpunkt der Stuttgarter „Hänsel und Gretel“-Inszenierung steht. Foto: Kirill Serebrennikov / Denis Klebleev Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Ihr Mann sei verhaftet worden, sagt die Mutter aus Ruanda. Ihr 13-jähriger Sohn David spielt im „Hänsel und Gretel“-Projekt der Stuttgarter Oper den Hänsel in einem Stummfilm, der die Live-Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenstück kontrapunktieren sollte. So hatte es der russische Regisseur Kirill Serebrennikov ursprünglich geplant. Von einer bitteren Koinzidenz der Ereignisse wird das verhindert: Wie mehrfach berichtet, ist Serebrennikov selbst verhaftet worden. Die russische Justiz hat den Moskauer Theatermann im August unter Hausarrest gestellt und mit einer Kontaktsperre belegt. Am späten Dienstagabend kam dann die schlimme Nachricht: Der Hausarrest für Serebrennikov wird bis 19. Januar verlängert. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Proteste russischer und internationaler Künstler gibt sich die Justiz unerbittlich, kein Gehör fand der beinahe flehend geäußerte Wunsch Serebrennikovs, ihn für künstlerische Arbeiten wenigstens einige Tage freizulassen - „wenn nötig unter den Läufen von Kalaschnikow-Maschinenpistolen“, wie er sagte. Die Absurditätenspirale um die angebliche Veruntreuung von Staatsgeldern - offenkundig ein Vorwand zum Zweck politischer Einschüchterung - dreht sich damit weiter. Seine Stuttgarter Inszenierung konnte Serebrennikov nicht realisieren, zur Premiere der „Ersatzhandlung“ am kommenden Sonntag kann er nun auch nicht kommen. Ein Platz wird für ihn im Opernhaus frei bleiben und seine erzwungene Abwesenheit symbolisieren. „Wir sind traurig und wütend“, erklärte Opernintendant Jossi Wieler.

Brücken über die Kluft

In einer Pressekonferenz zeigte die Oper gestern einen Dokumentarfilm von Hanna Fischer, der das ungewöhnliche Film- und Inszenierungsprojekt von den Dreharbeiten im Frühjahr in Ruanda und Stuttgart an begleitete. Eine um die jüngsten Ereignisse erweiterte Fassung wird am 19. November, 11 Uhr, im SWR gesendet. Zu sehen ist in dem Film, wie weiße Europäer - Serebrennikov und sein Team sowie die Stuttgarter Produktionsdramaturgin Ann-Christine Mecke - mit den in der ärmeren Bevölkerungsschicht des schwarzafrikanischen Landes gecasteten Kinderdarstellern Ariane Gatesi (14) als Gretel und David Niyomugabo als Hänsel proben und drehen, locker und freundlich umgehen. Die Kluft bleibt trotzdem: „Alles hier wie eine billige Kopie von Europa“, mokiert sich Serebrennikov. Und dann, zu seinem Kameramann gewandt: „Ich weiß, was du denkst: Ist das arm genug für ,Hänsel und Gretel‘?“ Die Afrikaner wiederum haben noch nie etwas von einer Sache namens Oper gehört. Aber sie reden von einer „Chance“ - für was auch immer. Dann die in Stuttgart gedrehten Szenen: Klar staunen die beiden Kinder ein bisschen - über die Rolltreppe am Flughafen, die Shopping-Tempel an der Königstraße, den Opernhaus-Pomp. Aber europäische Überlegenheitsarroganz befriedigt das nicht. Die Beiden bleiben natürlich - und etwas stolz, ausgewählt worden zu sein. „Wir sind eben die Weißen, die mit Geld kommen, um ihr Projekt zu machen“, sagt Dramaturgin Mecke und gesteht ihre Skrupel, ob das Ganze nicht ein „Menschenexperiment“ sei, ein „kontrollierter Kulturschock“. Man sei jedoch behutsam vorgegangen, habe Schutzmaßnahmen eingebaut, ruandische Begleiter mitgebracht: Versuche, Brücken über die Kluft zu bauen. Postkoloniale Brisanz birgt das Projekt trotzdem - in beiden Richtungen. Und das soll auch so sein.

So genial wie naheliegend

Denn Serebrennikovs so geniale wie naheliegende Idee ist es, dem Armutsklischee der Märchenoper jenen Weg zu weisen, den heute das schlechte Wohlstandsgewissen in aller Regel einschlägt: den Weg nach Afrika. Wahrscheinlich ist das die einzige Möglichkeit, Humperdincks post-wagnerischen Kitsch auf die Gegenwart anzuwenden - oder umgekehrt: die Gegenwart auf das Stück.

Der Schauplatzwechsel nach Stuttgart ist durch die Figur des Sandmanns mit der Opernhandlung verbunden. Er versetzt die Kinder im Schlaf in unsere wuchernden Konsumzonen, die für den labyrinthischen Märchenwald stehen. Die böse Hexe bleibt ausgespart, das Knusperhäuschen vertreten Sahnetorten in der Konditorei - für Hänsel übrigens gar nicht märchenhaft lecker. „Schmeckt eklig“, sagt David und lacht.

Er und Ariane Gatesi werden bei der Premiere dabei sein, den europäischen Regisseur trifft trotz aller Solidarität ein politischer Bann, wie ihn unsere Klischeevorstellungen gern in ferne Weltgegenden wie Afrika entsorgen würden: ein erschreckendes Exempel für die Machtlosigkeit vermeintlicher Zivilisation und die Gleichheit der Repression.

Was nun am Sonntag ohne Regisseur zur Premiere kommt, sei „eine Gemeinschaftsproduktion des ganzen Ensembles“, sagt Wieler - und zwar „für die ganze Familie mit Kindern ab acht Jahren“. Im Mittelpunkt stehe Serebrennikovs Film, der „zu 80 Prozent fertig“ sei, erklärt Video-Künstler und Cutter Ilya Shagalov. Über das Live-Geschehen auf der Bühne will Wieler nichts Näheres verraten. Es gilt jedenfalls die Vereinbarung: Serebrennikovs Bühnenbild- und Kostümentwürfe werden nicht verwendet, die Realisierung seiner Inszenierung bleibt dem Regisseur vorbehalten. Den Termin legt die Moskauer Justiz fest.

Die Premiere beginnt am kommenden Sonntag um 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Die nächsten Vorstellungen folgen am 26. Oktober, 4. November, 2., 13., 16. und 26. Dezember, 7. und 14. Januar.

Vor der Premiere am Sonntag wird um 14.30 Uhr im Foyer die Ausstellung „Chronik der Ereignisse - Kirill Serebrennikov im Visier der Staatsgewalt“ eröffnet. Im Anschluss findet ein Podiumsgespräch statt mit der russischen Theaterkritikerin Marina Davydova, mit Valery Pecheikin, Dramaturg des von Serebrennikov geleiteten Moskauer Gogol Centers, und dem Komponisten Sergej Newski.