Der Teufel ist sauer: Sandra Gerling (vorne) als Mephisto, Lea Ruckpaul als Gretchen und Paul Grill als Faust. Foto: JU Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Was der für eine Fresse zieht! Angewidert, überdrüssig, mit herausgestreckter, rot gefärbter Zunge. Posen wie im Böse-Buben-Rock, Neo-Punk- und Grunge-Abgründe tun sich auf. Verweigerung, Zerstörungslust, Hass auf alles, was existiert. Das Ganze, wie bei den einschlägigen Stil-Ikonen, verrührt mit der Wehleidigkeit narzisstischen Gekränktseins, das erst recht destruktiv macht. Ein schlimmer Finger, dieser Kerl. Kein Wunder. Schließlich ist er der Teufel. Mephisto (oder Mephista) aus Goethes „Faust - Der Tragödie erster Teil“: Sandra Gerling gibt dem Bösen trefflich androgyne Gestalt, im dunkelgrauen Anzug und mit schulterlanger Lottermähne. Wenn Faust um Gretchen balzt, steht er/sie/es wie eine Vogelscheuche starr an der Rampe, zeigt die missmutige Fratze der Eifersucht.

Womit Stephan Kimmigs „Faust I“-Inszenierung im Stuttgarter Schauspielhaus einen Dreierbeziehungskonflikt anmahnt, war doch Lea Ruckpauls jugendfrisches Gretchen-Blondchen im „Prolog im Himmel“ noch der Liebe Gott höchstselbst, wenn auch ironisiert zum Rollenspiel („Wir haben das nochmal geprobt“). Aber das Buhlen um Fausts Seele ist nun einmal Gegenstand der Wette zwischen Gott und Teufel und damit Handlungsmotor. Nur wird das in Kimmigs Version zur bloßen Theaterrealität erklärt: Der Himmelsprolog ist verzahnt mit dem „Vorspiel auf dem Theater“, Goethes Backstage-Posse, deren Pointen - „Zwar sind sie“ (die Zuschauer) „an das Beste nicht gewöhnt“ - von den Stuttgarter Zuschauern mit netten Lachern quittiert werden. Und als Schlusswort drei Stunden später wird Mephistos Walpurgisnacht-Spruch „So seh’ ich wahrlich ein Theater“ herausgeklaubt. Bühnenlicht aus, Saallicht an, das im Kerker gerettete oder gerichtete Gretchen war vorher. Wenn überhaupt.

Im Zeitalter der Coolness

Was sich zwischen Theatertheater herauskondensiert, ist bei Kimmig so wenig ein transzendentales Weltendrama himmelhöllischen Rettens oder Richtens wie eine immer strebend sich bemühende Sinnsuche, denn die großen sinngebenden Instanzen gibt es eh nicht mehr. Stattdessen wird der drastisch, aber zielgenau gekürzte Text dem Gegenwartszeitalter der Coolness ausgesetzt - oder umgekehrt. Leidenschaft, Wissensdrang, faustische Egomanie? Alles nur Fassade. Dahinter steckt: nichts. Gott schrumpft zum Gretchen-Objekt der Begierde, einer kleinen Begierde nach dem vergehenden und verwehenden Lebensabschnittsmoment privaterotischen Glücks. Verständlich, dass der Teufel sauer ist. Er verkörpert wenigstens noch ein Prinzip, das des Bösen. Aber sein Prinzip beißt nicht mehr. Lethargisch und traurigen Blicks kauert Sandra Gerling samt leibhaftigem Pudel zu Beginn auf der Bühne. „Sitz - fletsch - fass“, befiehlt sie. Das Tier bleibt stoisch passiv. Des Pudels Kern ist zahm, das Böse nur noch Style: Rock-Pose und -Poster, brüllende Nachäfferei statt Satanismus.

Mephistos Problem: Hier fehlt die Fallhöhe. In welche Hölle soll der Böse die Menschen herabziehen, wenn sie sich bereits im Nirwana einer sinnfreien Welthölle befinden, die im Innersten nur die Droge zusammenhält? Ein aufplatzendes Koksbeutelchen beschert Faust einen schnell und kläglich wieder abstürzenden Höhenflug, der Gifttrank wird zum halluzinogenen Pilz, freilich ohne Bewusstseinserweiterung.

Da braucht es weder Gott noch Teufel, da braucht es den Entzug. Und deshalb stellt Bühnenbildnerin Katja Haß in Stahlträger-Klassizismus einen aseptisch weißen Tempel auf, der Symbol und Realort verschränkt: geschlossenes, dann zusehends aufgebrochenes Klassiker-Weltbild und hermetische Drogenklinik. Im Nebel ihres Desinfektionssprays nimmt Lea Ruckpaul hier neben Gott und Gretchen ihre dritte Gestalt an: die der Therapeutin. Den weißen Klinikkittel trägt sie ohnehin schon von Anfang an, jetzt kopiert sie ihre Hände und ihren Mund, hängt die Blätter wie Röntgenbilder auf, reißt sie ab und klebt sie sich auf den Leib: ein Ausdruck von Selbstentfremdung. Sie ist nur Teil einer Maschinerie.

Internierung ohne Außenwelt

Das Stück mutiert so zu der therapeutischen Tragödie erstem Teil. Gott und Geliebte verschmelzen in der Figur der Entziehungshelferin, Liebe und Leid werden zu Behandlungsmaßnahmen, Leben verrinnt in der Internierung ohne Außenwelt, entzogen werden nicht nur die Drogen, sondern auch die Dinge: Selbst die Schöner-Leben-Konsum- und Wohlstandsobjekte - Lippenstift, Fitnessgerät, Goldbarren, Smartphone, eine Kirchenglocke als Religionsrestbestand - erscheinen als bleich-monumentalisierte Warenfetische, steril und nutzlos wie die Objekte des Gipskopf-Klassizismus. Da kann die Diagnose nur bitter sein: Faust - oder der Welt - ist nicht zu helfen. Beim Dialog im Kerker, der hier die Klinik ist, scheinen sich denn auch die Rollen von Faust und Gretchen, Täter und Opfer, zu vertauschen. Wenn das zum Tode verurteilte Gretchen die Befreiung durch Faust verweigert, liefert in Wahrheit - Ruckpaul zeigt das deutlich - die Therapeutin ihren Patienten dem therapeutischen Misserfolg aus.

Bei Kimmig gibt es freilich zwei Fäuste und kein Hallelujah. Elmar Roloff spielt den alten, Paul Grill den jungen, keine Hexenküche verjüngt den einen zum anderen, beide dauern fort: Coolness-Zeitgenossen sind zugleich alt und jung. Aber die Gretchentragödie stellt eine Weiche. Während sich Paul Grill - wahrlich nicht mehr der manische Wahrheitssucher, sondern ein dauerangespannter, krampfgeballter Drogen-Maniac - in die alte Geschichte hineinhalluziniert, wo vier Leichen seinen Weg pflastern, wird Elmar Roloffs Faustgreis zum Täter in einer grauenhaft heutigen Welt, die sexuelle Machtgier im Innersten zusammenhält: Passagen aus Elfriede Jelineks „FaustIn and out“ beziehen den faustischen Drang in polemischer Sexualwörtlichkeit auf Josef Fritzl, jenen 2008 verhafteten Vater, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Kellerverlies eingesperrt, vielfach vergewaltigt und mit ihr sieben Kinder gezeugt hat. Das brutale Verbrechen, bei Jelinek vom Einzelfall anklägerisch erweitert auf die internationale Kinderprostitution, ist in der Inszenierung aktuelles Äquivalent zu Goethes zeitgebundener Kindsmörderinnen-Tragödie, aber auch Teil des Internierungsmotivs. Spielt die erste Szene nach der Pause - Faust baggert auf der „Straße“ die sich sträubende Margarete an - im Foyer, tönt alsbald Mephistos hypnotisch wiederholte Stimme: „Kommen sie herein ... ganz leise“. Vom Pausengong begleitet klingt das wie der Lockruf einer Psychosekte, der man nicht mehr entkommt (Fritzl hat das Verschwinden seiner Tochter übrigens damit erklärt, sie sei zu einer Sekte gegangen).

Kimmig hat die Stränge seiner Inszenierung präzis verknüpft, in einem Vier-Personen-Kammerspiel zeigt er Figuren, die einsam und identitätslos zugleich sind: Wesensschatten, Tauschobjekte, Befindlichkeitsechos, denen der Musiker Malakoff Kowalski mit reichlich Rock den Soundtrack liefert. Das ist klug durchdacht und hat die stärksten Momente, wenn Dialoge gleichsam zu inneren Monologen der aufgespaltenen Figuren werden: sehr heutig-kommunikationslos, ich-fixiert ohne Ich. Nur geht die Konfrontation mit dem Faust-Stoff eben nicht immer auf, manches scheuert belanglos am Text, mündet in den Zirkelschluss. Am Ende steht wieder ein Tier auf der Bühne, ein Gipswaren-Pfau: Symbol hohler Eitel- und Nichtigkeit, der zeitkritischen Regie-Weisheit letzter Schluss - und doch banal. Denn wussten wir das nicht schon von Anfang an?

Nächste Vorstellungen: 13., 17. und 21. Oktober, 7., 15. und 25. November, 7., 20., 22. und 29. Dezember.