Das lebende Prinzip Verantwortung: Cornelius Meister. Foto: Marco Borggreve - Marco Borggreve

Cornelius Meister, seit Beginn der Spielzeit Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper, stellt die Konzertpläne für die kommende Saison vor – und präsentiert sich als lebendes Prinzip musikalischer Verantwortung.

StuttgartAn der Wand hängen nebst etlichen Zettelchen Gustav Klimts „Der Kuss“ und ein bedächtig in die Orgeltasten greifender Max Reger: Jugendstil und der massige Musiker auf einer historisch vergilbten Fotografie, Marke Pathos durch Patina. Der Klimt, der Reger: Zeugen einer lange vergangenen Moderne. Cornelius Meister blickt gern zurück. Und nach vorn. Vorn steht um einen langen Tisch eine kunterbunte Kollektion von Stühlen, Rokoko bis neusachlich, Biedermeier bis funktional. „Alle aus dem Fundus“, sagt Cornelius Meister. Wenn man dem Dirigenten, seit Beginn dieser Spielzeit Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper, Glauben schenkt, könnte auf jedem der Stühle ein Zuhörer Platz nehmen. Denn so heterogen wie das Sitzmobiliar in seinem Chefdirigentenbüro – so „erfrischend heterogen“ findet Meister auch das Stuttgarter Publikum: „Offen, neugierig und mit ganz unterschiedlichen Erwartungen.“ Hier geht alles, folgert er, nur eines nicht: „Die Sprachregelung ,Das ist dem Publikum nicht zumutbar’.“

Niemals stehenbleiben

In schöner Symmetrie mutet sich Meister allerlei zu, was er sich nicht zumuten müsste. Wie ein Korrepetitor am Klavier sitzend feilt er mit den Sängerinnen und Sängern an ihren Parts – in der „Ariadne auf Naxos“, in „Così fan tutte“; Wiederaufnahmen wohlgemerkt, keine Premieren. Selbstauferlegte Fronarbeit ist das nicht, sondern Realisierung eines „Traums“, sagt er: „dass sich jede Sängerin, jeder Sänger auch in ihren Rollen fortwährend weiterentwickeln.“ Meister, jünger wirkend als seine 39 Lebensjahre, ist so etwas wie das lebende Prinzip Verantwortung. Musik ist ihm, dem Sohn eines Hannoveraner Klavierprofessors und einer Pianistin, ganz selbstverständlich Profession: Professionalität im Sinne redlicher Arbeit, die nie unter dem Erreichbaren bleibt, nie beim Erreichten stehenbleibt; und emphatisches Bekenntnis, das sich im durchgestalteten Klang Ausdruck gibt.

Angesichts der eigentümlichen Biozyklen der Branche hat Meister in relativ jungen Jahren schon etliche Sprossen der Karriereleiter erklommen: Er war Generalmusikdirektor in Heidelberg, Chef des ORF-Symphonieorchesters in Wien, wird hoch gehandelt und gastiert bei den erlauchtesten Klangkörpern. Aber als Starstabschwinger-Abwurfstelle versteht er seine Position nicht. Er zeigt Präsenz. Mit seiner Familie lebt er seit dem Sommer 2017 in Stuttgart, seine drei Kinder gehen hier zur Schule. „Es ist für mich eine ganz natürliche Voraussetzung, dass ich die Stadt, in der ich arbeite, gut kenne.“ Und so erfährt er Stuttgart mit allen Höhenunterschieden: als konsequenter Radfahrer.

Er ist dann auch mal weg, aber in Maßen: Gastieren wird Meister an der New Yorker Met mit einer Produktion pro Spielzeit, beim Orchester der Mailänder Scala, bei den Wiener Sinfonikern oder als Erster Gastdirigent des Yomiuri-Nippon-Sinfonieorchesters in Tokio. In Stuttgart hingegen wird er auch dort präsent sein, wo man ihn nicht vermutet. In der Kammerkonzert-Reihe des Staatsorchesters spielt er in der neuen Saison 2019/20 an einem Abend Klavier, in den Liedkonzerten begleitet er Matthias Klink in Schuberts „Schöner Müllerin“ – jeweils als Gast, nicht als Chef. Darauf legt er Wert. Denn in höchsten Tönen lobt er die Eigeninitiative der Orchestermitglieder, die „glücklicherweise viel zu viele Ideen einbringen“. Fürwahr: Die sieben ausgetüftelten Programme reichen von Klassik-Jubilar Beethoven (2020 ist sein 250. Geburtsjahr) bis zu György Kurtág oder Galina Ustwolskaja, etliche lohnende Raritäten inklusive. Und die Liedkonzerte, wie immer in Zusammenarbeit mit der Hugo-Wolf-Akademie: „Eine großartige Gelegenheit für die Ensemblemitglieder, sich der Textbehandlung, dem Ausdrucksspektrum, dem souveränen Gestalten zu widmen – ohne die Hilfe eines Kostüms und einer Inszenierung“. Sagt Meister, der Freund von Feinschliff und Nuance.

Und von Vielfalt oder eben: Heterogenität. Deshalb hält er es für falsch, dem Publikum beispielsweise „nur einen oder zwei Stränge der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu präsentieren“. Er selbst dirigiert in den Sinfoniekonzerten im Beethovensaal eine Uraufführung der kroatischen Komponistin Mirela Ivicevic zum Saisonschluss, zum Auftakt Alban Bergs „Sieben frühe Lieder“ mit Simone Schneider, kombiniert mit Mahlers Vierter – eine Mahler-Sinfonie pro Saison hat er sich vorgenommen.

Schumann mit John Cage

Und er wagt ein Experiment: Erstmals gibt es an einem der Doppeltermine unterschiedliche Programme. Auf Sonntag und Montag, 17. und 18. November, wird eine Gesamtaufführung der vier Sinfonien Schumanns verteilt. Dazu stellt Meister wieder John Cage, mit dessen tonlosem Stück „4’33“ er sein Stuttgarter Amt angetreten hatte – vielversprechender zurücknehmen kann sich ein Dirigent nicht. Nun folgt auf andere Weise Undogmatisches vom alten Avantgarde-Anarchisten: Teile aus „Quartets for 93 Players“ – strikt tonale Kompositionen, die auf A-cappella-Chorsätzen des 19. Jahrhunderts basieren. „Nie klingen mehr als vier Töne gleichzeitig, die 93 solistischen Spieler sind nach einer Zufallsaufstellung auf der Bühne verteilt. Es geht um die Kommunikation über weite Räume hinweg“: Ganz sachlich erklärt Meister die Machart – und doch hört man den emotionalen Herzton mit: Musik als Kommunikationsmittel, als Brückenschlag über alle Distanzen. Und das gilt in jeder Richtung: Zu den musikalischen Distanzbrechern beim Publikum gehören auch ein Silvester- und ein Familienkonzert, beide mit Meister am Pult.

Versteht sich bei alldem, dass ihm der ferne Blick aufs übrige Programm vollkommen fremd ist: „Ich fühle mich auch verantwortlich für das, was ich nicht selbst dirigiere.“ Wenn etwa Debussys zartes Flötensolo „Syrinx“ – ungewöhnlich im großen Beethovensaal – Varèses „Déserts“ für Orchester und Tonband einleitet, merkt man die Handschrift des experimentierfreudigen Vielfalt-Apostels Meister. Auch wenn Duncan Ward den Abend dirigiert (außerdem mit Musik von Ravel, Koechlin und Debussys „Jeux“).

Stilistische Polyphonie

Die stilistische Polyphonie der älteren und neueren Moderne wird weiter aufgefächert mit der Uraufführung der Neufassung von Isabel Mundrys „Endless Sediments“ (Dirigent: Jonathan Nott, außerdem Schostakowitschs vierte Sinfonie und Richard Strauss’ Burleske mit Pianist Kirill Gerstein); mit dem Klavierkonzert von Viktor Ullmann (Solistin: Claire Huangci) und Weberns Passacaglia, zusammen mit Bruckners Sechster dirigiert vom künftigen Karlsruher Generalmusikdirektor Georg Fritzsch; und nicht zuletzt mit Strawinskys unwiderstehlichem „Sacre“-Kracher in Joana Mallwitz’ Leitung, verbunden mit Messiaen und Prokofjews ersten Violinkonzert (mit Alina Pogostkina). Alles zusammen: ein Saisonprogramm, das Kontur und Kante zeigt. Jedenfalls „nicht am Reißbrett geplant“, wie Cornelius Meister sagt.

Abos für die Sinfoniekonzerte können ab sofort gezeichnet, Einzelkarten vorbestellt werden.

www.staatstheater-stuttgart.de/karten