William Forsythe stellte die klassisch-akademische Grundlage des Balletts auf den Kopf. Das Bild von 2014 zeigt den Choreografen in einer ihm gewidmeten Ausstellung in der Kunsthalle Dresden. Foto: dpa - dpa

Er hat das Ballett revolutioniert, die klassisch-akademischen Grundlagen des Bühnentanzes auf den Kopf gestellt: Der Choreograf William Forsythe, der in Stuttgart seine Karriere begonnen hat, wird an diesem Montag 70 Jahre alt.

Stuttgart/FrankfurtOh Röschen rot! Der Mensch liegt in größter Not!“ Es war ein wunderschöner, ganz kurzer Pas de deux, der am 18. November 1976 zu einem Lied Gustav Mahlers beim Stuttgarter Ballett Premiere hatte. Die Tänzerkollegen erkannten sofort das außergewöhnliche Talent des jungen Choreografen. William Forsythes Erstlingswerk „Urlicht“ war voll ungewöhnlicher Hebungen und von einer drängenden Intensität. An diesem Montag feiert der amerikanische Choreograf seinen 70. Geburtstag und blickt, zunächst als wüster Zerstörer des Balletts gefürchtet und dann als sein Retter gefeiert, auf ein Lebenswerk zurück, das die Tanzwelt radikal veränderte.

1973 hatte der damalige Stuttgarter Ballettchef John Cranko den jungen New Yorker bei einer Amerika-Tournee der Kompanie engagiert; als Forsythe dann in Stuttgart eintraf, war Cranko bereits überraschend auf dem Rückflug von der Tournee gestorben. Seine Nachfolgerin Marcia Haydée förderte den jungen Choreografen nach Kräften, nach einem wilden Umweg übers Tanztheater fand Forsythe relativ schnell zu jener Ästhetik, die ihn bis heute berühmt macht. Sein abendfüllender „Orpheus“, zu dem ihm Hans Werner Henze eine Partitur und Edward Bond das Libretto schrieben, wurde 1979 mit zerschmetterten Requisiten und schreienden Tänzern zu einem „Aufstand gegen das apollinische Gesetz des Stuttgarter Balletts“, wie der Rezensent Horst Koegler damals schrieb. Die Abonnenten knallten die Türen zu, aber die ersten Kritiker erkannten das Genie des jungen Choreografen, dem Stuttgart bald zu eng wurde.

Bewegungsanalyse statt Erzählung

1984 wurde Forsythe als Ballettdirektor in Frankfurt sein eigener Chef, dort arbeiteten Klaus Zehelein und Michael Gielen bereits an einer neuen Opernästhetik. Auch Forsythe begründete eine Ära, das Frankfurter Ballett war damals Kult. Kolonnenweise fuhren die jungen Stuttgarter Zuschauer an den Main, sahen dort Werke wie „Artifact“, „Steptext“, „Impressing the Czar“, „Limb’s Theorem“, „Quintett“ oder das schräge Musical „Isabelle’s Dance“. Das neue, moderne Idiom, das heute als „der Forsythe-Stil“ gilt, stellte die klassisch-akademische Grundlage des Balletts auf den Kopf und kippte den Körper aus der Achse. Der Spitzenschuh war so ziemlich das einzige, was Forsythe behielt – er analysierte Bewegungen, anstatt mit ihnen zu erzählen, er verzichtete auf Hierarchien und auf klassische Musik, hämmerte uns stattdessen die elektronischen Synkopen seines Lieblingskomponisten Thom Willems ums Ohr.

In athletischen, raumgreifenden, stark akzentuierten Bewegungen vereinte Forsythe die klaren Linien der Neoklassik mit dem Raumkonzept Rudolf von Labans, betonte die Plastizität der Körper, schob die Hüften nach vorne und zerlegte das Ballett in Einzelteile. Später – die Spitzenschuhe hatte er da lange hinter sich gelassen – wurde er immer hermetischer, die prägnanten Linien wurden zu Windungen, Pessimismus durchdrang seine Stücke. Die Zuschauer blieben aus, die Frankfurter Politiker schlossen 2004 gegen internationalen Protest die Tanzsparte. Zehn Jahre lang leitet Billy Forsythe dann die kleinere Forsythe Company, nach einem schweren Burnout zog er sich 2013 zurück.

Nach über 40 Jahren in Deutschland kehrte Forsythe in die USA zurück. Dort unterrichtet er in Kalifornien und liebt die Wälder von Vermont, nach einer längeren Pause choreografiert er auch wieder. Über seinem neuesten Programm „A Quiet Evening of Dance“ schwebt ein leises Lächeln, ist er doch mit gestreckten Beinen und klassischer Musik wieder dort angekommen, wo einst die Reise begonnen hat. Wie spannend wäre es, könnte man seine frühen Werke noch einmal in Stuttgart sehen – seine jazzigen „Love Songs“ etwa, diesen frühen Beitrag zur MeToo-Debatte, oder den revolutionären „Orpheus“. Forsythe selbst hat etwas dagegen; vielleicht lässt er diese Stücke eines Tages doch wieder neben den späteren Klassikern wie „Artifact“ gelten.

Nie war die pure Provokation seine Absicht, Forsythe ist ein Forscher am äußersten Rand des Tanzuniversums, dem zuerst keiner folgen konnte und den dann so viele kopierten. Wo alle anderen seiner Kollegen irgendwann ihre Sprache gefunden haben, ihren spezifischen Stil, da blieb William Forsythe sein Leben lang nie stehen, forderte den Tanz unablässig heraus und befragte ihn. Was für ein Mut!