Sylvain Cambreling zieht es nach Hamburg Foto: Marco Borggreve - Marco Borggreve

Sylvain Cambreling, seit 2012 Generalmusikdirektor in Stuttgart, nimmt Abschied. Am Sonntag dirigiert er seine letzte Premiere. Die Oper, sagt der designierte Chef der Hamburger Symphoniker, wird er vermisssen.

StuttgartHamburg! Im Zimmer des Generalmusikdirektors sitzt Sylvain Cambreling, seine Augen leuchten, und in seinem unverwechselbaren, französisch gefärbten Deutsch breitet der 69-Jährige seine Arme weit aus: In Hamburg, sagt er, könne er ab September „sein Repertoire“ spielen, was für ein Glück!

„Sein Repertoire“? Schwer zu sagen, was das ist. Und, vor allem: was nicht. Getreu der Devise „Am meisten gefällt mir alles“ liebt Sylvain Cambreling die ganze Breite der Musik „von Monteverdi bis morgen“, wie er selbst es formuliert. Seitdem er im September 2012 Chefdirigent des Staatsorchesters wurde, hat er am Eckensee Opern von Verdi, Tschaikowsky, Mozart, Beethoven, Wagner, Strauss und Offenbach ebenso dirigiert wie Stücke des 20. und 21. Jahrhunderts (von Mark Andre, Philippe Boesmans und Edison Denisov); hinzu kommen all die sinfonischen Werke, die er mit seinen Musikern im Beethovensaal aufgeführt hat. Sie wird er ab Herbst zu den Hamburger Symphonikern transportieren, die ihn vor allem wegen seiner 45-jährigen Pulterfahrung engagiert haben. Sagt Cambreling – und betont, dass er das Angebot auch wegen der Laeizhalle angenommen habe, in der sein zukünftiger Klangkörper residiere. Welches andere Orchester verfüge schließlich über den Luxus, im Konzertsaal selbst proben zu können? Obendrein habe das Haus am Johannes-Brahms-Platz eine „wunderbare Akustik“, und das Orchester dort sei zwar „klein, aber sehr gut“.

Lust auf neue Impulse

Natürlich ist das größere Staatsorchester auch sehr gut. Das hat der temperamentvolle Franzose wieder und wieder betont, und er hat es in der ihm eigenen überwältigend-weltumarmenden Art getan, die seinem Gegenüber schlichtweg keine Chance lässt zu Einwänden. Wenn sich Cambreling begeistert, dann ist man unweigerlich mit ihm Feuer und Flamme. Das gilt sogar für das bloße Zuhören – und sogar bei Musik unserer Zeit. Selbst bei zunächst spröde wirkenden zeitgenössischen Klängen gelingt Cambreling das Kunststück, Klarheit mit Enthusiasmus zu vereinen – und heraus kommt ziemlich oft Neue Musik, aus der die Flammen züngeln.

Nun ist Schluss in Stuttgart. Ob er nicht habe bleiben wollen? Nein, nein, winkt Cambreling ab, „sie kriegen einen Neuen, und ich war ja nicht der Erste“. Außerdem seien sechs Jahre als Chef doch eine ziemlich gute Zeit, nach der es „neue Impulse und neuen Enthusiasmus“ brauche, auch für ihn selbst. Vor seinem Engagement in Stuttgart ist er zehn Jahre am Théatre de la Monnaie in Brüssel gewesen, viereinhalb in Frankfurt, zwölf beim SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg; seit neun Jahren (und noch bis 2019) leitet er außerdem als Chefdirigent das Yomiuri Nippon Symphony Orchestra in Tokio.

Die Oper, zugegeben, wird er vermissen, vor allem die Zusammenarbeit mit Jossi Wieler und Sergio Morabito, die sei immer „so intensiv und extrem angenehm“ gewesen. Überhaupt habe er in Stuttgart in engem Kontakt mit den Regieteams gestanden, wie das nicht an allen Häusern möglich sei. Ob es dabei schon mal Streit gab? „Ich akzeptiere nicht alles“, sagt Cambreling, „ich bin nicht nur Begleiter. Ich bin bereit, Risiken einzugehen, aber wenn eine szenische Idee gefährlich ist für das Zusammenspiel, die Balance oder die Sänger, dann fange ich an zu diskutieren. Manches mag für die Premiere ja gehen, aber wie fragil ist eine Aufführung danach, also im Repertoire und bei der Wiederaufnahme?“ Lösungen hat man aber immer gefunden.

Auf dem Tisch im Dirigentenzimmer liegt die Partitur des Stücks, das am Sonntag, 1. Juli, als letzte Premiere der Ära Jossi Wieler an der Oper Stuttgart uraufgeführt wird: „Erdbeben. Träume“ des 1955 in Hiroshima geborenen japanischen Komponisten Toshio Hosokawa ist ein einaktiges Werk, das auf Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chili“ fußt. Der Schriftsteller Marcel Beyer hat dazu ein Libretto geschrieben, das, so Cambreling, „davon erzählt, wie sich Menschen nach einer Katastrophe verändern“.

Potenzial zum Repertoirestück

Ein während des großen Tsunamis geborener autistischer Junge erfährt im Rückblick, wie seine Eltern ums Leben kamen. Es ist eine Geschichte von Gewalt, Liebe, Schönheit und von Wunden, die nie heilen. Hosokawa hat sie speziell für die Stuttgarter Sängerbesetzung und für den Staatsopernchor geschrieben, und Cambreling schwärmt von den Momenten der Empathie und der Emphase, von einkomponierten Naturgeräuschen, von der Poesie der Sprache und der Klänge. „Die Musik“, sagt er, „ist eher konventionell, weil Hosokawa seine Zuhörer bewegen will. Sie ist sehr filigran, sehr textverständlich, dazu extrem emotional, vielleicht manchmal ein wenig sentimental, aber tief berührend.“ Und in einer Atmosphäre, die sich nach dem tragischen d-Moll von Mozarts Requiem anhöre, habe das Ende schließlich einen fast liturgischen Charakter.

„Diese Oper“, meint der Dirigent, „könnte ein Repertoirestück werden. Sie hat das Zeug dazu.“ Er wird am Sonntag alles geben. Und am Tag nach der Premiere feiert er seinen siebzigsten Geburtstag. Für ihn kein Grund an Ruhestand zu denken. „Wenn ich auf dem Podest stehe“, sagt Sylvain Cambreling, „bin ich glücklich. Warum sollte ich also damit aufhören?“

Premiere von „Erdbeben, Träume“ ist am Sonntag, 1. Juli, um 19.30 Uhr.