Jetzt geht der Punk erst richtig ab: Szene aus Minus 16“, einem Stück von Ohad Naharin. Foto: Regina Brocke Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - In Israel ist’s laut, glaubt man dem Soundtrack seiner Choreografen. Wummernde Bässe und pulsierende Techno-Beats eröffneten im Theaterhaus das zweite Colours-Tanzfestival - mit dem wilden, dynamischen Tanz von „Mega Israel“ hat Gauthier Dance wieder einen Knüller am Start. Alle vier Choreografen des Abends stammen aus der Batsheva Dance Company, Israels wichtigster moderner Truppe. Ohad Naharin leitet sie seit fast 30 Jahren und ist mit seinem Gaga-Stil so etwas wie der Guru der für ein so kleines Land ungewöhnlich fruchtbaren Tanzszene.

Hofesh Shechter, der jüngste der Tanzschöpfer, spielte parallel zum Tanz in einer Band und wurde in London zum gehypten „Rockstar“ unter den modernen Choreografen. In „Uprising“ stammen auch Musik und Ausstattung von ihm, das elf Jahre alte Stück zeigt die dunklen, diesigen Straßen einer Großstadt, in der eine geduckte Gang junger Männer mit ihren Aggressionen kämpft. In ihren Cargo-Hosen und weiten Shirts marschieren sie erst mal frontal an die Rampe, bevor sie in einer Mischung aus Street Dance, Guerilla-Militarismus, Orang-Utan-Schlenkern und Testosteron-Explosion miteinander ringen. Im einen Moment geben sie sich einen coolen Klaps, im nächsten zucken sie gequält am Boden. Immer wieder geht kumpelhafte Rivalität in unkontrollierte Gewaltausbrüche über, kippt das wilde Spiel junger Männer in bitteren Ernst - ein wahrhaft aktuelles Thema.

Atemlose Bilder

Shechters stark am Rhythmus orientierter Bewegungsstil ist bei aller Aggression von einer fließenden Natürlichkeit, er arbeitet ohne Struktur in kurzen, atemlosen Bildern. Die sieben Jungs von Gauthier Dance tanzen das grandios und wachsen zu marternden Geräuschen über sich hinaus. Am Ende meint der Titel „Uprising“ nicht nur das Sich-Erheben, das Überquellen der Wut zum Aufstand - er meint auch das Erwachsenwerden und den Versuch, die Kontrolle über sich selbst zu gewinnen. Zu den vergessenen Fetzen einer Mozart-Symphonie zeigt das überraschende Schlussbild die Momentaufnahme einer Barrikade, auf der eine kleine rote Flagge geschwenkt wird - gelungener Aufstand oder doch Ironie?

Das Choreografenpaar Sharon Eyal und Gai Behar hat einen eigenwilligen Stil für roboterhafte Gruppenverbände entwickelt, den sie in „Killer Pig“ mit der stolzen Eleganz des Balletts kreuzen: ein verblüffender Effekt. Die Neufassung des Stücks lässt sechs Tänzerinnen wie auf High Heels, aber ohne Absätze dauertrippeln. In stolzer, erhabener Haltung kontrollieren diese nur in weiße Trikots gehüllten Amazonen ständig ihre Spannung. Zwar versuchen immer wieder Einzelne, sich aus der artifiziellen, sehr präzisen Gemeinschaftsbewegung zu befreien, brechen in nervösen oder dramatischen Solos aus, aber am Schluss ist die hypnotische Kraft des Kollektivs zu stark. Das zu lang geratene Stück zitiert zahlreiche Ballettposen und lebt zu einem ganz erstaunlichen Teil von der Eleganz der klassischen Allüre, was nicht alle der eher athletischen Gauthier-Tänzerinnen durchhalten; toll sehen Barbara Melo Freire und Sandra Bourdais aus. Zu einer repetitiven Musik aus pulsierenden Beats, die sich nur minimal verändert, ist „Killer Pig“ mehr Bewegungsstudie als Tanztheater, die coole Antwort auf Jerome Robbins‘ „The Cage“ - nur halten die wilden Amazonen bei Eyal/Behar auf eine geziert-groteske Art an sich und lassen einfach nie los.

Nach der Pause sind dann Damen und Herren wieder vereint auf der Bühne, jetzt geht der Punk erst richtig ab. „Minus 16“ ist ein Signaturstück von Ohad Naharin, das er 1999 fürs die Junioren des NDT aus alten Werken zusammenstückelte und das seitdem auf der halben Welt gezeigt wird. Schon in der Pause groovt Luke Prunty fröhlich auf der Bühne vor sich hin, zwischen Cha Cha Cha und tiefinneren Bekenntnissen changiert dann auch die nachfolgende Mischung aus fröhlich pervertiertem Gesellschaftstanz, charmanter Publikumsbeteiligung und - oha, Ohad - ungefiltertem Die-Sau-Rauslassen.

Mittendrin rührt ein fast zarter Pas de deux zu Vivaldis „Stabat Mater“. Höhepunkt ist eine immer heftiger rockende Version des traditionellen jüdischen Liedes „Echad mi Jodea“. Wie anonyme Geschäftsleute in Anzügen, mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten, kauern die 16 Tänzer auf ihrem Halbkreis aus Stühlen, brechen in einem hypnotischen Ritual in furiose, wilde Bewegungen aus, werfen Hüte, Sakkos und Hemden von sich und singen, ja grölen begeistert immer wieder den Refrain des Pessach-Liedes mit: „Doch eins ist er, im Himmel und auf Erden“. Dass sie sich danach 16 Zuschauerinnen auf die Bühne holen, die ganz wunderbar mithalten im grotesken Treiben, ist sozusagen die heitere Belohnung.

Anders als wir feinen Europäer haben die Tanzschaffenden Israels den Kontakt zum tanzenden Volk, zum Volkstanz nie abreißen lassen. Aus dieser tief verwurzelten Tradition heraus vermitteln sie nun etwas, was wir in unserer abstrakt-abgezirkelten Neoklassik und den diskursdurchseuchten Tanztheatergrübeleien lang vergessen haben: die pure Lust am Tanzen, die elementare Freude am Gliederwerfen, das Befreiende der wilden Bewegung. Hingehen! Mittanzen!

Weitere Aufführungen bis So, 9.7., dann wieder ab 3. November.