Von Thomas Krazeisen

Stuttgart -Zwei Werke zweier Komponisten, die ebenso offenkundige Gemeinsamkeiten wie faszinierende Gegensätze verbinden, erklangen beim zweiten Saisonkonzert des Freiburger Barockorchesters im Beethovensaal. Mit Mozarts Requiem und Haydns sogenannter Harmoniemesse kamen die beiden letzten großen Schöpfungen der Komponisten zur Aufführung. Im einen Fall hatte sich der Lebens- und Schaffensbogen gleichsam natürlich gewölbt, im anderen war er mitten im Leben abgerissen: Mozart war 35 Jahre alt, als er sich an sein - wie sich herausstellen sollte - opus ultimum gemacht hatte, gerade einmal halb so alt wie Haydn. Die Totenmesse, formal betrachtet ein Auftragswerk für den Grafen von Walsegg-Stuppach, blieb ein Torso. Mozart konnte nur den ersten Satz, den Introitus, fertigstellen. Für das Kyrie und weitere Sätze bis zum Offertorium sind lediglich noch einzelne Stimmen und der Generalbass niedergeschrieben worden, die Sätze „Sanctus“/„Benedictus“ sowie „Agnus Dei“ konnten von Mozart selbst nicht mehr bearbeitet werden.

Diese Situation war in künstlerischer Hinsicht misslich, aber sie war für die Familie Mozart vor allem in finanzieller Hinsicht schmerzlich - schließlich war vom vereinbarten Honorar erst ein Teil ausbezahlt. Mozarts Witwe sorgte dafür, dass aus dem Fragment zügig ein fertiges Werk wurde.

Behutsame Neubearbeitung

Während zunächst mehrere Tonsetzer, zuvorderst der begabte Mozart-Freund Joseph Eybler, rasch die Segel strichen, sorgte mit dem Mozart-Schüler Franz Xaver Süßmayr ein Assistent für die Komplettierung, der als eher mediokrer Kandidat für die anspruchsvolle Aufgabe angesehen wird. Das Ergebnis sei „fehlerhaft, schwerfällig und und fantasielos“, fasst René Jacobs in einem im Programmheft abgedruckten Interview die überwiegende Meinung der heutigen Mozartforscher zusammen. Der Dirigent aus Gent hatte sich deshalb entschieden, eine weitere Bearbeitung der Süßmayr‘schen Vervollständigung aufzuführen. Sie stammt von Pierre-Henri Dutron, der die Stuttgart-Premiere im Beethovensaal miterlebte. Der französische Komponist zettelt als jüngster Vollender des unvollendeten Requiems kein Revolution an. Seine überwiegend behutsamen Arrangements sorgen für eine dezentere Instrumentierung des tradierten Materials. Vor allem in der Sequenz „Dies irae“ hört sich das Ergebnis dieser Revision, die Dutron ein „Süßmayr-Remade“ nennt, subtiler und auch harmonischer an. Die Orchesterfarben sind hier und da raffinierter abgemischt, der markantere Einsatz der Bassetthörner ermöglicht eine feinere Palette luzider Mozart-Melancholie.

Dass dieses Totenamt eine hoch spannende und obendrein quicklebendige Veranstaltung wurde, dafür sorgten nicht minder die ausführenden Organe. René Jacobs animierte das glänzend disponierte Freiburger Barockorchester zu einem rhythmisch prägnanten und zugleich wunderbar plastisch-elastischen Klang. Die superben Vokalsolisten (Sophie Karthäuser/Sopran), Marie-Claude Chappuis/Alt, Maximilian Schmitt/Tenor und Johannes Weisser/Bass) und der exquisite, mit grandioser Agilität und unforcierter Intensität glänzende RIAS Kammerchor lassen Mozarts Intention, diese Messe von ihrem vokalen Zentrum aus zu komponieren, unmittelbar einleuchten.

Jacobs eigenwilliger Zugriff zeigt die Akribie eines nüchternen Klangarchäologen ebenso wie die Autonomie eines bisweilen höchst unkonventionellen Gestalters, der sich auf sein Gespür für Dynamik und Eleganz verlassen kann. Das Requiem bekommt einerseits einen fast atemlosen Drive; auf der anderen Seite schafft es Jacobs immer wieder mühelos, diesen elegisch beschleunigten Totentanz für faszinierende Detailbeobachtungen scheinbar zum Stillstand zu bringen - man betrachte nur das wogende, fahl pulsierende Sequenzfinale („Lacrimosa“), in dem die Bitte um Schonung und existenzielle Ruhe mit nachgerade philologischer Präzision nachbuchstabiert wird.

Nach dieser fulminanten Interpretation war es denn auch in klangsinnlichem Betracht ein eher kleiner Schritt zu Haydns sinfonisch inspirierter „Harmoniemesse“ mit ihrem üppigen Blecheinsatz. Die heitere Glaubensgewissheit eines mit sich und der Welt im Reinen Befindlichen geriet im Beethovensaal nicht weniger delikat: ein intelligent beschwingt musiziertes Dokument eines gereiften Gottessuchers.