Der Dirigent Frieder Bernius hat mit Christian Cannabichs „Electra“ Foto: Musikpodium Stuttgart - Musikpodium Stuttgart

In der furiosen Interpretation wird das musikgeschichtliche Fossil wieder lebendig. Aber es zeigt sich auch, warum die Gattung des Melodrams schnell ausgestorben ist.

StuttgartEin Melodram? Heute denkt man da ans Kino, an filmmusikalisch aufgeheizte Schmachtfetzen. Die Methode reicht freilich ins 18. Jahrhundert zurück, ausgehend von der damals heiß diskutierten Frage: Wie kann man die Dramatik von Wort und Musik verbinden, ohne ins Gekünstelte der Oper zu verfallen? Der Zurück-zur-Natur-Philosoph Jean-Jacques Rousseau gab 1770 mit seinem „Pygmalion“ eine radikal einfache Antwort: Man belässt beides, Wort und Musik, im Naturzustand. Als Kombination von gesprochenem Text und Musik war das Melodram geboren, stieg kometengleich auf – und war schon nach gut einem Jahrzehnt wieder verglüht. Wenn man Christian Cannabichs „Electra“-Melodram hört, versteht man beides.

Im Stop-and-Go-Modus

Frieder Bernius hat mit seiner Hofkapelle Stuttgart das musikgeschichtliche Fossil von 1781 ausgegraben und in der Musikhochschule zu furiosem Leben erweckt. Tragische Wucht kündigt die c-Moll-Einleitung an, der schnelle Ouvertürenteil gleicht einem musikalischen wie emotionalen Crescendo: mit düsteren Hörnertönen, unruhigen Synkopen, beschleunigtem Eingangsmotiv auch im rumorenden Bass, Intarsien der leuchtenden, empathisch ausdrucksvollen Holzbläser – alles hochdynamisch gespielt, gleichsam akustisch inszeniert. Im weitgehend monologischen Text von Wolfgang Heribert von Dalberg hofft Electra auf Rache an ihrer gattenmörderischen Mutter, die soeben ihren Geliebten und Mittäter Ägisth heiratet. Cannabich unterlegt die verzweifelte Seelenschau mit den Pathosformeln der Opera Seria, durchmischt mit Tonmalereien, leitmotivisch verknüpft mit chromatisch fahlen oder rhythmisch erregten Wendungen aus der Ouvertüre: Musikdramatik von psychologisierender Finesse – und doch klingt es wie ein langes Accompagnato-Rezitativ, dem Arien und Gesang abhanden kamen (abgesehen von den kurzen, kristallklar gesungenen Frauenchören). Im kleinteiligen Stop-and- Go-Modus, so prägnant er hier auch fokussiert wurde, bleibt das Melodram stecken – und mit ihm die schnell wieder ausgestorbene Gattung. Die Sprecherin Isabelle Redfern gestaltete ihren Part emotional und glaubwürdig, verfälscht aber durch die elektronische Verstärkung ihrer Stimme. Wo bleibt da der ansonsten gepflegte Originalklang?

Den hörte man eingangs auch im B-Dur-Klarinettenkonzert von Johann Stamitz, dem ersten der Musikgeschichte, das dem Instrument idiomatisch auf den Leib geschneidert ist. Zum fein moussierenden Orchesterklang spielte der Solist Pierre-André Taillard mit enormer Fingerfertigkeit und elastischer Tongebung, von hellem Glanz bis zu sinnlichem Pastell.