Foto: Alex Wunsch, Citizen Kane - Alex Wunsch, Citizen Kane

In „Die Stille der Stadt“ katapultiert das Citizen-Kane-Kollektiv die Landeshauptstadt in eine dystopische Zukunft – und zieht Parallelen zu Detroit.

StuttgartSchmuckloser als hier ist die Stadt nirgendwo: Die Gegend rund um den Gaskessel im Stuttgarter Osten toppt an Trostlosigkeit die Stuttgarter Neckarstraße bei weitem – was etwas heißen will, schließlich war die Gegend rund ums SWR-Funkhaus die Inspirationsquelle für Samuel Becketts große Hymne an das Nichts. Tauscht man in seinem Kurzgedicht die Straßennamen aus, weiß man, wo die Performer des Citizen-Kane-Kollektivs atmosphärisch gelandet sind: „Vergesst nicht beim Stuttgart-Besehen/ die Rotenbergstraße zu gehen./ Vom Nichts ist an diesem Ort/ der alte Glanz lange fort./ Und der Verdacht ist groß:/ hier war schon früher nichts los“ – unweigerlich kommt einem dieser bleibende Sechszeiler in den Sinn, wenn man sich dem Gebäuderiegel nähert, der gegenüber dem Gaskessel in der Rotenbergstraße 170 liegt. Hundert Meter lang ist das Gebäude, mit Flachdach, mechanisch aufgereihten Fenstern an der weißgetünchten Vorderfront und absolutem Mangel an Charme und Charakter – der alte Glanz ist fort von diesem Ort, was aber dem neuesten Projekt von Citizen Kane gerade nicht zum Nachteil gereichen dürfte: „Die Stille der Stadt“, die an diesem Freitag Premiere hat, entwirft in vielen kleinen Szenarien das Bild einer untergehenden Metropole, das Panorama einer urbanen Dystopie, für das der Nichtort in der Rotenbergstraße tatsächlich wie geschaffen ist: Dreizehn Räume und Säle warten hier darauf, vom Künstlerkollektiv mit Performances und Ausstellungen, Installationen und Diskussionen zum apokalyptischen Thema bespielt zu werden.

Minihotel mit Sauna

Im dritten Stock des entmieteten Gebäudes befindet sich die Citizen-Kane-Bar. Übriggeblieben ist sie vom Minihotel mit Sauna, das neben anderem Gewerbe in diesem Betonkasten untergebracht und früher womöglich ein Bordell war. Bühnenbildner haben die Bar zur dunklen Wohnhöhle umgebaut. Der Blick aus dem Fenster ist fantastisch und für die „Stille der Stadt“ programmatisch zugleich: Vorbei am Gaskessel, der wie ein schwarzer, stummer Rundriese in den Himmel ragt, geht er hinüber zur Mercedes-Benz-Arena, zum Mercedes-Benz-Museum und zu den entlang des Neckars gelegenen Motorenwerken, denen Museum und Arena ihre Existenz zu verdanken haben. „Stuttgart lebt von der Autoindustrie“, sagt Christian Müller, der Regisseur des Citizen-Kane-Kollektivs, „wir aber fragen uns, was mit der Stadt geschieht, wenn die klassische Industrie eines Tages verschwindet.“

Antworten darauf hat Müller in der Autostadt Detroit gefunden, wohin er im vergangenen Sommer zur Recherche reiste: eine Stadt, deren Infrastruktur für zwei Millionen Menschen ausgelegt ist, in der aber nur noch 600 000 Menschen leben. „Der Niedergang ist an allen Ecken und Enden greifbar“, sagt der Forschungsreisende. Wenn man erkennt, was hier schiefgelaufen ist, kann man es andernorts vielleicht verhindern“ – zum Beispiel in Stuttgart, das ökonomisch noch immer in der Komfortzone liegt und jetzt vom Citizen-Kane-Kollektiv in eine ungemütliche Zukunft katapultiert wird.

Was die Truppe in ihren dreizehn Wunderkammern zu bieten hat, weiß man noch nicht. Aber dass sie mit originellen Spielweisen ihr Publikum jenseits aller Routine ästhetisch und intellektuell herausfordert, hat sich seit ihrer Gründung 2014 herumgesprochen. Wie in einem Kaleidoskop bilden sich in ihrem Diskurstheater immer neue inhaltliche Muster, die von den Spielern, Tänzern, Performern und Musikern lustvoll erzeugt werden. Der dabei entfesselten, bisweilen an Happenings erinnernden Spielfreude merkt man überdies an, dass Citizen Kane den Namenszusatz „Kollektiv“ nicht nur als schickes Label verwendet: Die verschiedenen Künste wirken tatsächlich produktiv zusammen, was zuletzt auch in der Prostitutionsstudie „Girls Boys Love Cash“ zu sehen war, wo das Kollektiv die Käuflichkeit des Menschen im Kapitalismus thematisierte – das Stück ist der erste überregionale Erfolg von Citizen Kane und gastiert im Mai beim Jugendtheaterfestival in Berlin.

Nun also „Die Stille der Stadt“ im Stuttgarter Osten, mit der es Ende Januar aber wieder vorbei sein wird. So lange läuft der Mietvertrag mit der SWSG, der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft. So lange also wird das Publikum in der Rotenbergstraße unter anderem durch eine Ausstellung geschleust, in der Christian Müller und Alex Wunsch ihre Fotografien zeigen: der eine aus Detroit, der andere aus Stuttgart, wo das Bürgerhospital schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Patienten sind ausgezogen und haben Platz gemacht für die Gespenster des Leerstands. Die Diagnose lautet auch da: Niedergang.

Weitere Aufführungen nach der Premiere an diesem Freitag: 12., 18. bis 20. sowie 25. bis 27. Januar; Einlass ist jeweils um 19 Uhr. Gespielt wird in einer alten Fabrik in der Rotenbergstraße 170.

www.citizenkane.de