John Cranko in einer undatierten Aufnahme . Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Ein Strahlen in den Augen, eine Wärme in der Stimme, eine augenblickliche Ergriffenheit und Begeisterung: Egal, mit wem man über John Cranko spricht, die Erinnerung an ihn verändert noch Jahrzehnte nach dem Tod des legendären Choreografen sofort das Gesicht des Gesprächspartners, ob das nun seine Muse Marcia Haydée ist, Choreologin Georgette Tsinguirides oder eine ganz normaler Stuttgarter, der den legendären Ballettdirektor damals kannte. Cranko war der Begründer des Stuttgarter Ballettwunders und ein prägender Choreograf der Tanzgeschichte - aber er muss vor allem ein ganz besonderer Mensch gewesen sein. Wäre er nicht im Juni 1973 in einem Flugzeug über dem Atlantik gestorben, dann könnte er morgen, am 15. August, seinen 90. Geburtstag feiern.

Mit 17 schuf er sein erstes Ballett in seiner Heimat Südafrika, mit 23 galt er in London bereits als größte Choreografenhoffnung seiner Generation - und fand trotz reger Kreativität doch keinen festen Platz neben den arrivierten Platzhirschen des britischen Balletts. Mit 33 Jahren verließ er die Weltstadt London und ging ins schwäbische Ballettnirwana, kräftig gefördert von Walter Erich Schäfer, dem damaligen Generalintendanten der Württembergischen Staatstheater. Binnen kürzester Zeit baute Cranko eine Kompanie nach seiner Vorstellung auf und schuf in nur 13 Jahren die Ballette, die weltberühmt wurden: „Onegin“ und seine Fassung von „Romeo und Julia“ gehören heute zu den ewigen Klassikern des Genres. Basierend auf der Grundlage des klassisch-akademischen Balletts britischer Ausprägung entwickelte er nach und nach seinen eigenen Stil, für den er einen neuen Interpretentypus formte: den Tanzschauspieler oder dramatischen Tänzer. Solche zu suchen und auszubilden, ist seither das Credo der Stuttgarter Kompanie.

Hoch gebildet, gerne bunt gekleidet

Der Choreograf mit den auffallend blauen Augen war ein höchst gebildeter, an allen Künsten interessierter Mensch, er sprach hervorragend Deutsch, las ständig Bücher und zog sich gerne bunt an. Aber er war trotz der Liebe seiner Tänzerfamilie ein einsamer Mensch und oft depressiv, er trank zu viel und trieb sich nächtelang durch die Stuttgarter Bars. „Ich glaube, man muss die Schattenseiten des Lebens sehen, um irgendetwas Schöpferisches tun zu können. Erst wenn man erkennt, wie schrecklich die Menschen sind, kann einem zum Bewusstsein kommen, wie schön sie sind“, zitiert ihn sein Biograf John Percival. Alle Ballette John Crankos zeugen von seiner tiefen Liebe zum Menschen, selbst in abstrakten Werken huldigt er nicht nur den schönen Linien wie George Balanchine, sondern zeigt Freundschaft, Trauer oder Humor.

Als Cranko auf dem Heimflug von einer erfolgreichen USA-Tournee im Flugzeug starb (er erstickte an Erbrochenem), da war Stuttgart zum deutschen Nationalballett aufgestiegen und hatte eine neue Tanzkultur in Deutschland begründet: „Er hat, und das ist vielleicht sein größtes Verdienst, dem künstlerischen Tanz in der Bundesrepublik den Boden bereitet und Deutschland zu einer international geschätzten Ballettnation gemacht“, schrieb der Kritiker Hartmut Regitz damals. Niemand hätte zu jener Zeit damit gerechnet, dass die junge Kompanie tatsächlich bis ins Jahr 2017 weiterlebt, aber Crankos Kinder haben sie aus der Kraft seiner Ideen am Leben erhalten. Nicht nur Marcia Haydée und Reid Anderson, seine Nachfolger als Direktoren, auch die vielen Solisten, Ballettmeister und anderen Künstler in ihrem Umfeld. Sie haben Crankos Ballette gepflegt und konstant neue Choreografen gefördert, bejubelt und kritisiert vom neugierigsten Tanzpublikum Deutschlands - auch das ein Verdienst John Crankos, der immer den direkten Kontakt zum Zuschauer suchte.

Wenn man den Erben etwas vorwerfen kann, dann die sträfliche Vernachlässigung der vergessenen Cranko-Werke - wie gerne hätte man seinen „Nussknacker“ wiedergesehen, die vielen Einakter wie „Die Befragung“ oder „Ebony Concerto“. Warum wurde erst jetzt damit begonnen, die berühmten Handlungsballette auf DVD festzuhalten?

Der Ruf der Ballettstadt Stuttgart beruhe auf John Cranko, so wurde Marc-Oliver Hendriks, der geschäftsführende Intendant der Staatstheater vor Kurzem in einem Artikel zitiert, und die Kündigung eines modernen Choreografen wie Marco Goecke könne diesen Ruf kaum erschüttern. Aber schon zu Crankos Zeiten lag der Fokus immer auf neuen Kreationen und Uraufführungen, schon der visionäre Gründer förderte ständig junge Kollegen. Überliefert ist die berühmte Antwort des Ballettdirektors auf Walter Erich Schäfers Frage, ob der blutjunge Jirí Kylián vielleicht „ein neuer Cranko“ werden könnte: „Hoffentlich nicht. Hoffentlich wird er ein Kylián“. Cranko hätte einen so sensiblen und originären Künstler wie Goecke, einen Bruder im Geiste, nie auf die Straße gesetzt. Wer denkt, dass das Abspielen 50 Jahre alter Handlungsballette die Essenz des Stuttgarter Balletts ausmacht, der hat diese Kompanie nicht verstanden. Die Vision lag immer beim Neuen, beim Kreieren - man muss nur an Crankos experimentelle, absurde Werke wie „Présence“ denken, um zu erahnen, dass er sich in ungeahnte Richtungen fortentwickelt hätte. Wäre er heute mit 90 Jahren noch in Stuttgart, der exotische Vogel unter den braven Schwaben? Hat er ihnen damals vielleicht doch ein wenig das Tor zur Welt aufgestoßen?