Ballettintendant Reid Anderson demonstriert Herzschmerz, seine Tänzer Rocio Aleman und Martí Fernández Paixà amüsieren sich. Foto: Ulrich Beuttenmüller Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Vielleicht wird es doch eine ganz lustige Spielzeit beim Stuttgarter Ballett, wenn sie mit einem stepptanzenden Ballettdirektor beginnt, der pantomimisch auf James Dean macht und dann auch noch kunstvoll den Tambourstab jongliert. Reid Anderson scheint fest entschlossen, seine letzte Spielzeit von vorne bis hinten zu genießen. Seine mitreißend gute Laune prägte den Auftaktabend zu einem zweiwöchigen Marathon von „Blick hinter die Kulissen“-Abenden und -Matineen.

„Cranko Pur“ heißt die erste Ballettpremiere am 3. Oktober, der 1973 gestorbene John Cranko wird zu seinem 90. Geburtstag noch einmal die ganze Spielzeit über gefeiert; eine ganze Galerie mit Hannes Kilians schönsten Bilder des legendären Choreografen begleitet den Anstieg zum Kammertheater hinauf, wo es prompt zum Stau Erstaunter kam. Oben ist der Saal nicht im seitherigen „Cabaret-Look“ mit den kleinen Kaffeetischchen eingerichtet, sondern frontal zur Bühne bestuhlt, die so einfach mehr Platz bietet. Zwei Wochen lang werden dort ausschließlich Cranko-Schritte geprobt, mit sämtlichen Ballettmeistern und Choreologen, mit dem willkommenen Gast Egon Madsen (am Mittwoch, Donnerstag und Samstag), mit praktisch allen Tänzern der Kompanie.

Den Anfang machte „L’Estro Armonico“, ein konzertantes Ballett zu Vivaldi-Konzerten aus dem Jahr 1963, nur selten zu sehen in den vergangenen Jahrzehnten. Anderson zeigte historische Filmdokumente der Kompanie aus den 60er- und 70er-Jahren („Ja, ich hatte mal Haare!“). Obwohl das Stück auf den ersten Blick der damals so beliebten Balanchine-Ästhetik ähnelt, stellte der Ballettintendant die Unterschiede doch ganz klar heraus - indem der 68-Jährige die Lackschuhe anzog und ein Stepptänzchen hinlegte. Cranko nämlich lässt die Ballerinen auf Spitze steppen und ebenfalls die Herren in ihren Schläppchen. Frisch wie der junge Frühling klackerte der Chef seinen erstaunten Untergebenen den Rhythmus vor. Verblüffend war auch die extrem hohe Zahl heutiger Ballettdirektoren, die man auf den alten Videos herumkurven sah: Die Stuttgarter haben die halbe Welt damit versorgt.

Über die Neckarstraße (die damals noch am Staatstheater vorbei bis zum Charlottenplatz ging) hat nicht nur Samuel Beckett ein depressives Gedicht verfasst, das Ballett hat eine verkehrsreiche Szene nach ihr getauft: Sechs Herren halten ihre Damen vor dem Bauch und kurven gefährlich schnell und wirr umeinander herum. Anderson zeigte die perfekte Gigolo-Hüfte, er demonstrierte Crankos Horrorfilm-Anleihen für „Brouillards“ und markierte ausführlich den Halbstarken für ein Trio, das er selbst damals in diesem Debussy-Ballett kreiert hat. Das Auditorium lag am Boden.

Cranko ließ sich von seinen Tänzern inspirieren und entwickelte seine Schritte aus deren Material; Anderson begreift seine finale Spielzeit als Intendant offensichtlich als die letzte Gelegenheit, all diese kleinen, subtilen Entstehungsgeschichten noch einmal aus erster Hand weiterzugeben, sie einer neuen Generation von 20-jährigen Tänzern zu erzählen, damit Crankos Werke in möglichst vielen Köpfen und Körpern zuhause sind. Nur so kennen die jungen Interpreten die Motivation für jede Bewegung, nur so überleben die Werke, wenn irgendwann niemand mehr von der Originalbesetzung da ist. „When in doubt, fake it“ - „Wenn du Zweifel hast, dann tu einfach so“, riet der Ballettchef seinen lachenden Tänzern, als eine komplizierte Drehung nicht klappte - und kündigt nebenbei an, als frisch gebackener deutscher Staatsbürger am Sonntag zum ersten Mal in seinem Leben wählen zu gehen. Sein Publikum würde ihn wiederwählen, keine Frage.

Der „Blick hinter die Kulissen“ findet fast täglich bis 30. September statt.

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