Robert Smith tanzt nicht. Er ist auch nicht mehr so dünn wie einst, aber dafür befindet er sich musikalisch in den besten Jahren. Foto: Steffen Schmid Quelle: Unbekannt

Songs wie „Prayers for Rain“ und „Disintegration“ halten die Weltschmerz-Party mit den Gruft-Göttern am Laufen. Der Abschluss ist der krönende Höhepunkt einer meisterhaften Verschmelzung von Post Punk, Pop und Wave.

Von Ingo Weiss

Stuttgart - Seit Jahren machen The Cure live das Gleiche, wenn auch in Perfektion. Ihre großen Düster-Hits haben zig Jahre auf dem Buckel, das letzte Album liegt acht Jahre zurück. Seitdem war die englische Pop-Rock-Wave-Gothic-Band auch nicht mehr auf Deutschlandreise, obwohl die Gruppe unablässig durch die Welt tourt und die größten europäischen Festivals bespielt. Trotzdem - oder gerade deswegen - ist die Stuttgarter Schleyer-Halle nahezu ausverkauft. Und die 12 000 Fans erleben ein außergewöhnliches Konzert, das auf seine Art ungemein in den Bann schlägt.

Das 1976 im südenglischen Crawley, West Sussex, gegründete Quintett um Mastermind, Sänger und Gitarrist Robert Smith nimmt sein Publikum mit auf eine ausgedehnte Reise durch die vergangenen vier Dekaden. Viel Zeit müssen die Fans mitbringen. Unter 30 Songs, drei großzügigen Zugabeblöcken und zweieinhalb Stunden Spielzeit machen es die verschrobenen Ahnherren der Gothic-Bewegung auch diesmal nicht. Aber jede Minute lohnt sich: Der Auftritt ist ein einziger, wunderbarer Flashback zurück in die New Wave-Zeiten, eine herrliche Feier einer der einzigartigen Rockbands der Welt.

Das Konzert ist nicht nur aufgrund der Spielzeit ein Festmahl für popkulturelle Musik-Connaisseure. Die Faszination liegt insbesondere in einer außergewöhnlichen Programm-Dramaturgie begründet, die allabendlich wechselt und so immer wieder für superbe Wendungen sorgt. Allen Konzerten gemein ist die nahezu perfekte Mischung aus grandiosen Hits, die die Musikszene beeinflussten und mittlerweile zu wahren Klassikern der Popgeschichte avanciert sind, und fast vergessenen, selten gespielten Raritäten wie „It can never be the Same“.

Was viele in den 70er- und 80er- Jahren an The Cure schätzten, war die starke Melancholie. Robert Smith beschwor in seinen Texten Morbides und Melancholisches, Brutales und Sentimentales. Er sang von unangenehmen Gefühlen wie Liebeskummer, Todessehnsucht und Weltekel und diejenigen, die sich am Rand fühlten, konnten plötzlich hören, wie viel Konsens in individueller Trauer steckte. Man musste dazu nicht mehr nachts auf Friedhöfe schleichen.

In der Schleyer-Halle startet der Retro-Marathon der Kultband für alle Traurigen mit ebensolchen düsteren Stimmungen. „Plainsong“, „Pictures of you“ und „Closedown“ mitsamt ihren unendlich langen Intros stammen allesamt vom Album „Disintegration“ (1989), mit dem sich The Cure vom Pop ab- und dem Dark Wave zuwendeten. Später halten auch Songs wie „Prayers for Rain“ und der Titeltrack „Disintegration“ die Weltschmerz-Party mit den Gruft-Göttern am Laufen. Doch schon mit Intermezzos wie „In Between Days“, „Lovesong“ und „Primary“ deuten Smith und Co an, dass die Finsternis nicht ewig dauern wird. Ungemein abwechslungsreich gestaltet sich der Hauptteil, sich geradezu dahin schleppende Songs wechseln sich ab mit flinken Krachern. Wo eben noch ein Gothrock-Brett hämmerte, klingt auf einmal lupenreiner Pop wie der wunderschöne Gitarrenpopsong „Just Like Heaven“. Es sind nicht nur die Hits, die begeistern. Smith stellt, wie seit 40 Jahren schon, Erwartungen immer wieder auf den Kopf. Dergestalt vergeht der Auftritt wie im Fluge und nach anfänglicher Orientierungslosigkeit pendelt sich auch der Sound auf höchster Ebene ein.

Unerschütterlich und mit bemerkenswert wenig Effekthascherei, aber verspielt und spielfreudig zelebrieren The Cure ihre tranceartigen Songs und versetzen das Publikum doch mit zunehmender Dauer in immer euphorieähnlichere Zustände. Viele Fans tragen zwar Schwarz, aber Smiths depressive Lieder treffen nicht mehr auf verzweifelte Seelen. Für die meisten ist das surreale Fest nicht mehr als eine traumhafte Zeitspanne Nostalgie. Entspannt, teils in sich gekehrt, tanzen viele Cure-Nerds vor sich hin.

Nur Robert James Smith, geboren 1959 in Blackpool, tanzt nicht. Das weite schwarze Hemd kann nicht kaschieren, dass er fülliger geworden ist, aber den schwarzen Kajal und die Starkstromfrisur à la „Doc“ Brown aus „Zurück in die Zukunft“ trägt er noch immer. Stoisch bleibt er hinter seinem Mikrofonstativ stehen, spielt Gitarre und singt, ohne Zwischenansagen, Song auf Song. Und das brillant. Die einzigartige und ausdrucksstarke Stimme klingt noch immer so sehnsüchtig, mysteriös und angstvoll wie vor Jahrzehnten. Smith ist die personifizierte Klagemauer. Man möchte ihn am liebsten knuddeln, so liebenswert kommt er heute dabei rüber.

Keyboarder Roger O’Donnell, der 2011 zu The Cure zurückkehrte, gibt mit seinen orchestral-sphärischen Synthesizersounds den Smith-Songs die Tiefe und Subtilität wieder, die der der Band 2008 gefehlt haben. Reeves Gabrels muskulöse Gitarren dagegen beißen. Der US-Amerikaner ist erst seit 2012 in der Band, spielte zuvor für David Bowie. Schlagzeuger Jason Cooper peitscht das Quintett nach vorn. Er strotzt vor Kraft und seine vertrackten Dschungelrhythmen wie bei „Burn“ aus dem Soundtrack „The Crow“ (1994) sind echte Leckerbissen. Und Simon Gallup? Der auf Rockabilly stilisierte Bassist gibt sich im Iron-Maiden-Shirt einem lustvollen Bühnenexpressionismus hin, durchmisst wie eine Hummel die Bühne von links nach rechts außen, ist akustisch aber Gold wert. Ohne sein großartiges, fast punkartiges Bassspiel wären die Cure-Songs nur halb so gut. Im ersten von drei Zugabenblöcken liefert er sich bei „A Forest“ auch ein hörenswertes Duett mit seinem Bandleader.

In den beiden letzten Zugabeblöcken erhöhen The Cure die Schlagzahl und den Druck merklich. Und langsam aber sicher treten sie, methaphorisch angedeutet durch eine aufsteigende Sonne bei „From the Edge of the Deep Green Sea“, aus der Dunkelheit heraus ins Licht. Das alternativ-morbide Albtraumlied „Lullaby“ geht über in das betörende „Wrong Number“, die vornehmlich in schwarz-weißes Licht getauchte Bühne strahlt plötzlich samt riesiger LED-Wand erstaunlich kunterbunt. Auf ihr wird sonst überwiegend das Live-Geschehen auf der Bühne gezeigt. Oder oft auch gar nichts, weil es nicht notwendig ist, weil das, was an musikalischer Qualität von der Bühne kommt, im Grunde keine optische Aufwertung braucht.

Das jazzig-swingende „The Lovecats“ mündet im dritten Zugabenteil in ein Finale furioso. Zuerst das fröhliche „Friday I’m in Love“ in einer brillanten Version, dann „Boys Don’t Cry“, „Close To Me“ und als Abschluss das ohrwurmige „Why can’t I be you“ - besser, herrlicher kann ein Cure-Konzert nicht enden als mit diesen ausgelassenen Pop-Hitversionen, die zeitloser klingen denn je. Der Abschluss ist der krönende Höhepunkt einer meisterhaften Verschmelzung von Post Punk, Pop und Wave und der Beweis, dass diese Gefühlswelten keine Nachwuchssorgen kennen.

Die Fans erleben die Inkarnation einer Band, deren glorreichen Jahre angeblich 20, 30 Jahre zurückliegen. Aber The Cure befinden sich gerade in ihren besten Jahren. Nie waren Robert Smith und Co. besser. Es ist Sonntag und nicht Freitag - aber trotzdem sind alle verliebt in The Cure.