Foto: Trickfilm-Festival Stuttgart - Trickfilm-Festival Stuttgart

Von Dietholf Zerweck

Stuttgart -„Pirate Smooch“ heißt einer der Trailer des Internationalen Trickfilmfestivals, welches am Dienstagabend im Stuttgarter Gloria-Kino mit der ersten Staffel des renommierten Kurzfilm-Wettbewerbs eröffnet wurde. Zwei Schlachtschiffe bekriegen sich parodistisch und mit spektakulären Animations- und Musikeffekten, bis zwei küssende Clowns auf Stangen in die Höhe schießen und mit einer Bubble den Titel des Festivals generieren. Drama und Comic: Zwei Elemente, die in den meisten der vorgestellten Kurzfilme eine Rolle spielen. 1000 Filme sind es insgesamt, die gezeigt werden und aus 1772 Einreichungen aus 81 Ländern ausgewählt wurden; 16 Preise werden vergeben, unter anderem auch für Langfilme (AniMovie), Young Animation, Tricks for Kids, Animation Comedy, Drehbuch und Computerspiele.

„Animation Without Borders“ heißt das Motto des diesjährigen Stuttgarter Trickfilm-Festivals, welches inzwischen zu den weltweit größten seiner Art gehört. Neben der kreativen Grenzenlosigkeit, so der künstlerische Leiter Ulrich Wegenast, soll es auch die kulturelle Vielfalt der Filmemacher abbilden - und natürlich die abenteuerlichen technischen Möglichkeiten, die mit „VR“ (virtual reality) und „AR“ (augmented reality), also der Herstellung von künstlichen Welten und Wirklichkeiten, bei der im Rahmen des Festivals veranstalteten FMX-Conference das thematische Schwergewicht bilden.

Starker Auftakt

Mit „Une tête disparaît“ von Franck Dion in 3D-Computer-Animation lief der erste 9-Minuten-Streifen über die Leinwand. Der verlorene Kopf gehört einer kleinen, dick bebrillten weißhaarigen Frau. Sie hat ihn im Café vergessen und klemmt ihn unter den Arm, sie will ans Meer, steigt in den Zug, wird verfolgt von einer streng besorgten Dame, die sich am Ende als ihre Tochter entpuppt, welche die kopflos Verwirrte schließlich am Strand in ihre Arme nimmt. Erinnerungs- und Traumsequenzen von enthaupteten Hühnern und Riesenfischen, die am Zugfenster vorbeischwimmen, bebildern den in weichen Pastelltönen gehaltenen Film auf fantasievoll subtile Weise: ein starker Auftakt für die erste Staffel des Internationalen Wettbewerbs, der bis zum Samstag noch fünf weitere folgen werden.

Beim Legetrick-Streifen „Nighthawk“ (Nachtschwärmer) des slowenischen Filmemachers Iva Kraljevic liegt ein scheinbar toter Dachs auf einer nächtlichen Landstraße und wird von Polizisten in den Graben befördert. Doch der Dachs mit menschenähnlichen Zügen ist sternhagelvoll betrunken, in der surrealen Autofahrt hat er den klapprigen Polizeiwagen gekapert und rast mit immer trüberem Visier und sich ständig kreuzenden Fahrspuren durch die Nacht. Eine Warnung vor Alkohol am Steuer?

„Zentralmuseum“ vom Altmeister Jochen Kuhn, der an der Ludwigsburger Filmakademie Filmgestaltung unterrichtet, führt den Zuschauer in ruhigen, mit Malerei und Grafik generierten Stills durch eine Galerie der Déja-Vus: Alles, was die moderne Kunstszene bietet an abstrakten und scheinrealen Installationen und Figuren, steht in einem alten Museum, das der Erzähler von seinem Onkel geerbt hat. Mit dem Museumswärter geht er durch die Räume - er ist der einzige Besucher. „Eine ziemlich reale Situation“, bemerkt Kuhn, der die Idee zu diesem Film vom eigenen Oeuvre abgeleitet hat und seine künstlerische Inspiration ausdrücklich nicht museal versteht: „Wir erben ständig die Welt, sind von Nachlässen umgeben.“

„Life Cycles“ vom Briten Ross Hogg ist ein virtuoses, nur vier Minuten kurzes Spiel mit Alltagsverrichtungen von Handy, Fernsehen, Duschen, Essen, Terrornachrichten im Live Stream, alles in rasender Schnittfolge in Malerei und Tinte auf Papier, während Anna Solanas in ihrem katalanischen Beitrag „Cavalls Morts“ (Tote Pferde) mit Puppen-Animation ein alptraumartiges Kriegsszenario aus dem Blickwinkel eines Kindes heraufbeschwört. Syrien liegt da ganz nahe, am Schluss versteckt sich der kleine Junge im blutigen Kadaver eines Pferdes.

Ironische Distanz

Einen zeichnerischen Overkill bietet Igor Melnikovs „Luke“, durch die ein Afrikaner in ein anderes Tapetenzimmer mit Fantasiewesen fällt, und aus ironischer Distanz und mit leicht erhobenem pädagogischem Zeigefinger lässt Jonas Odell in „Jag var en vinnare“ (Ich war ein Gewinner) in 2D-Animation drei Charaktere - abwechselnd und zu lange (14 Minuten) - in ihren virtuellen Welten monologisieren, die sie sich durch ständiges Computerspielen und Realitätsverlust als Ritter, Wikinger und haarige Hippiebraut erschaffen haben.

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