Teodor Currentzis nimmt Mahler beim klingenden Wort. Foto: SWR-Presse - SWR-Presse

Teodor Currentzis gibt mit Mahlers dritter Sinfonie sein Stuttgarter Antrittskonzert als Chef des SWR-Orchesters.

StuttgartDa stößt erst mal ein Studentenlied markig ins Horn. Wahlweise zu singen auf „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“ oder „Ich hab mich ergeben mit Herz und Hand“. Kennt heute keine Sau mehr, außer in einschlägig schlagenden Kreisen. Der Inhalt: revolutionär in der ersten, deutsch-patriotisch in der zweiten Version, die Gustav Mahler anno 1895/96 im Sinn gehabt haben dürfte, als er seine dritte Sinfonie komponierte. Musik über Musik also als Einstieg in den monumentalen Anderthalbstünder, aber auch ein Zitat mit außermusikalischem Inhaltskern. Der zielt bei Mahler naturgemäß nicht auf hurrapatriotische Propaganda, sondern auf ihre Entlarvung als Katastrophenprogramm, und deshalb hat der Komponist die Dur-Melodie gleich ins düster dräuende d-Moll verfremdet. Die Folgen zeitigt dann ein in jeder Hinsicht – motivisch, harmonisch, stilistisch, dynamisch – exzesshafter Kopfsatz-Koloss, der das Sonatenhauptsatz-Schema nur noch herbeibeschwört, um es zu sprengen: in kakophone Real-Polyphonie an der Grenze zu dissonierenden Klang-Collagen à la Charles Ives, in Singularitäten von Ereignissen, in sturmblasende Blechgeschwader und furchtbare Kollapse. „Objektivation des Chaos“ nannte Adorno das.

Auf dem Weg in die Apotheose

Teodor Currentzis, der neue Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters, ließ sich bei seinem Antrittskonzert im Stuttgarter Beethovensaal in diesem katastrophenmartialischen Klopper nicht lumpen. Da war alles drin: dumpf-unheilschwangeres Brüten, manische Getriebenheit, gellender Lärm, brutales Zusammenbrechen. Dennoch – und das ist die wahre und hohe Qualität der Interpretation – dirigierte Currentzis gegen die von kritischer Einsicht zum wiedergekäuten Klischee verwandelte Rede von der ewigen „Gebrochenheit“ in Mahlers Musik an. Er nimmt Mahler beim Wort, und das meint in der dritten Sinfonie – anders als etwa in der sechsten – den Weg in die ungebrochene Apotheose, die Currentzis nicht erst im Adagio-Finale in den strahlenden D-Dur-Himmel wölbt. Im Kopfsatz freilich gilt es zunächst, in der langen Einleitung, der Statik erstarrter Klangkomplexe, die unverbunden wie im Alptraum nebeneinanderliegen. Currentzis, dem hier seine Erfahrungen mit Neuer Musik zugute kommen, inszeniert ein gärendes Alchemistenlabor der Klänge, die sich jeglicher Formung entziehen, die Monstrositäten gebären. Das Marsch-Hauptthema geht der Dirigent mit federnder Leichtigkeit und Zurückhaltung an: Heiter schwingt, was einmal Gewalt war – und wieder werden wird. Denn in der Durchführung mündet das Eingangsfugato alsbald in grelle Material-Kollisionen, in zerfetzte Melodik und rumorende Schlagwerk-Getriebenheit. All das steigert Currentzis – unter Wahrung superber Tranzsparenz, welche die chaotische Brutalität erst hörbar macht – in vernichtende Orgiastik. In der Reprise aber weicht die Manie aus der Entwicklung des Marschthemas und wird zur Euphorie: Gezielt bahnt Currentzis bereits hier den Weg, den das Werk nehmen wird.

Bei alldem zeigt sich der griechisch-russische Dirigent gerade nicht als Zampano, sondern als hochmusikalischer und kundiger Werk-Deuter. Auch wenn er, trotz stets schwarzer Kleidung, als bunter Hund der Branche gilt: ein garantierter Aufmerksamkeitsmagnet (der Saal war rappelvoll), dem ein beinahe messianischer Ruf vorauseilt. Den obligatorischen Schatten des Scharlatanismus-Verdachts hat er in der Tat noch immer widerlegt. Er dirigiert ohne Taktstock, mit flinken Fingerspielen modelliert er feingliedrige, ziselierte Klänge, wie sie nebst den großen Bögen die Aufführung auszeichneten: eine Kunst des Leisen, des elegant Gelenkigen, die den zweiten Satz, ein Menuett, in die Nähe von Ravels melancholischer Nostalgie rückte, ohne die Spannung eines gleichsam elektrisch aufgeladenen Pastoralidylls zu unterschlagen. Eine schwebende, tänzerische Balance kennzeichnete auch das Scherzo, ebenso dynamisch angelegt auf die Erhitzung zu Mahlers burlesk-bedrohlichem Karneval der Tiere mit seinen Naturlauten und stampfenden Herdentrieben – und der erinnerungsselig eingeblendeten Märchenwelt des Posthornsolos (Jörge Becker) hinter der Bühne (und hinter einem wie ein Gaze-Vorhang fein gewobenen Streicherklangschleier).

Herzstück und Wendepunkt der Sinfonie, die Nietzsche-Vertonung des Lieds von der träumenden Mitternacht, sang Gerhild Romberger mit markantem, klarem Alt. Genau traf sie den Gestus des Stammelns unter Zeitlupe, der sich erst bei den entscheidenden Worten in die Kantilene löst: Lust ist „tiefer noch als Herzeleid“, und „alle Lust will Ewigkeit“. Currentzis fordert hier eine Höchstkonzentration ein, der das eigentlich sehr präsente, technisch formidable SWR-Orchester auch an ein paar weiteren Stellen (noch) nicht bis in Äußerste zu folgen vermag.

Hymnus an die Liebe

Die sinfonische Wende zum Positiven, Lebensbejahenden nimmt mit dem himmlischen Engelsgesang (schlackenlos: die Damen des MDR-Chors) samt dem berüchtigten Knabenchor-Bimmbamm (trefflich: das Stuttgarter Collegium Iuvenum) den Weg über eine ironisierte Erlösungsewigkeit, die vielleicht in der Ironie die Unfassbarkeit der höchsten Dinge birgt. Jedenfalls gehört ihr nicht das letzte Klangwort, sondern dem finalen Adagio, einem Hymnus an die göttlich überhöhte Liebe, den Currentzis so aufrichtig, wie er gemeint war, Mahler abnimmt. Zart – nein: zärtlich – beginnen die Streicher den unendlichen Gesang, setzen sich in mehreren Steigerungswellen gegen harmonische Trübungen durch – und Currentzis verströmt mit dem Orchester tatsächlich jene Lust, die Ewigkeit will: in glühender Intensität, die noch im Fortissimo die Balance wahrt. Weil aber doch enden muss, was nie enden will, rammen Mahlers wuchtige Paukenschläge gleichsam ein Versprechen in die Schlusstakte: was aufhört in der Zeit, soll weiterklingen in Ewigkeit. Das ist, in kitschfreier Emphase, die Botschaft, und Teodor Currentzis’ überragende Interpretation ist ihr Prophet.