Nills Zoologischer Garten in Stuttgart im Jahr 1903. Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg Quelle: Unbekannt

Das Finanzministerium ordnete an: „Die wilden Tiere haben aus der Wilhelma zu verschwinden.“ „Die Menschen verspüren das Bedürfnis zuzusehen, wie Tiere jagen, sich paaren, kämpfen“.

Von Dietrich Heißenbüttel

Die Wilhelma hat im Vorjahr 1,3 Millionen Besuchergezählt. Das sind fast 4000 am Tag und deutlich mehr, als selbst das Mercedes-Benz Museum für sich verbuchen kann. Trotz stolzer Eintrittspreise: Erwachsene 16, die Familie 40 Euro. Affen, Elefanten, Löwen, Zebras: Es ist vor allem die exotische Tierwelt, die sich unvermindert großer Beliebtheit erfreut. Auf den Schaubauernhof mit einheimischen Tieren will die Wilhelma dagegen in Zukunft verzichten. Der zoologische Garten: Die Idee der wissenschaftlichen Klassifikation und Zurschaustellung der weltweiten Tierwelt, stammt aus dem 19. Jahrhundert - auch wenn schon der Stauferkaiser Friedrich II. gerne Leoparden und Dromedare mit sich führte. Von einer kolonialen Vergangenheit wollte der Wilhelma-Direktor Thomas Kölpin allerdings nichts wissen, als ihn Iris Lenz, die Leiterin der ifa-Galerie Stuttgart, auf eine mögliche Zusammenarbeit anlässlich der 100-Jahr-Feier des Instituts für Auslandsbeziehungen ansprach. Die Wilhelma sei ein moderner Zoo, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Das stimmt zwar. Aber ist die Wilhelma nicht älter? Und gab es in Stuttgart davor etwa keinen Zoo?

Gut informierte Besucher wissen, dass Wilhelm I., der zweite württembergische König, seine Wilhelma am Rande des Rosensteinparks ursprünglich nicht als Zoo, sondern als „maurischen Garten“ angelegt hat. 1832 waren die „Tales of Alhambra“ des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving erschienen, die eine Welle der Begeisterung für die bis dahin kaum beachtete maurische Architektur Spaniens ausgelöst hatten. Nur zwei Jahre danach äußerte der württembergische König den Wunsch, einen Bau „mit einem Hof mit Arkaden im gotischen oder lieber maurischen Stil“ zu errichten. Erste Bauaufnahmen des mittelalterlichen Palasts in Grenada, unter anderem von dem britischen Architekten Owen Jones, waren gerade erst erschienen, als der Monarch im Jahr 1837 den Auftrag an seinen Architekten Karl-Ludwig Zanth vergab. Zanth muss diese Aufnahmen gekannt haben, denn als er 1842 mit dem Bau der Wilhelma begann, orientierte er sich vorwiegend an der Alhambra.

Wilhelms Bau habe „die morgenländischen Wunder der Alhambra in das Zaubertal des Neckars versetzt“, schwärmte ein früher Besucher. Ein anderer, noch eben „angenehm berührt von dem Zauber der schwäbischen Erde“, glaubte sich mit wenigen Schritten „in eine andere Welt entrückt, in die zauberhafte Welt der Märchen aus tausend und eine Nacht.“

Zur Einweihung der ersten Bauten im Jahr 1846 anlässlich der Hochzeit des Thronfolgers Karl mit der Zarentochter Olga kostümierten sich die jungen Adligen als Fürsten der Wüste. Während sich die Untertanen im Vormärz nach demokratischen Verhältnissen sehnten, träumte sich der König hinweg in einen imaginären Orient, in dem die engen Schranken der pietistischen Sittsamkeit aufgehoben waren. „Eine ähnliche Sammlung von weiblichen Nuditäten, wie die Bildergalerie dort und auf dem Rosenstein sie darbietet, findet sich schwerlich irgendwo wieder“, bemerkte 1855 Fürst Bismarck anlässlich eines Besuchs der Wilhelma.

Nach dem Tod Wilhelms blieb die Anlage verwaist, bis die Gewächshäuser 1880 gegen Eintrittsgeld zur Besichtigung freigegeben wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde daraus ein öffentlicher Botanischer Garten. 1951, drei Jahre nach dessen Wiedereröffnung, waren in der Wilhelma erstmals Giraffen, Antilopen und Zebras zu sehen, gefolgt von Pinguinen, Elefanten und Tigern.

Das Finanzministerium ordnete an: „Die wilden Tiere haben aus der Wilhelma zu verschwinden.“ Doch nachdem der Direktor Albert Schächle mit einem Löwenjungen vorstellig geworden war, sprach der Finanzminister Karl Frank ein Machtwort. Seitdem ist die Wilhelma der einzige Zoologisch-Botanische Garten in Deutschland.

Exotische Wildtiere waren in Stuttgart zwar keine Neuheit. Doch die Entwicklung war alles andere als geradlinig verlaufen. Der Biologe Werner Kourist resümierte 1976 anlässlich der Bonner Ausstellung „400 Jahre Zoo“: „Und in der Tat hat Stuttgart die nebst Wien wohl bewegteste Zoogeschichte aller Städte der Erde.“

Zur Vorgeschichte gehört die Menagerie, die König Friedrich 1812 eröffnet hatte. Vier Jahre später plagte eine Hungersnot das Land, und der König verstarb. Sein Sohn und Nachfolger Wilhelm I. löste die Menagerie auf. Berühmtheit erlangte ein Elefant, der dreimal ausbrach, zuletzt in Venedig, wo er schließlich in einer Kirche durch einen Kanonenschuss niedergestreckt wurde. Was Kourist zufolge den Zoo von einer Menagerie unterscheidet, ist das bürgerliche Anliegen des wissenschaftlichen Sammelns und Klassifizierens. Der Übergang ist fließend. Der Wiener Tiergarten Schönbrunn war ursprünglich eine Menagerie. Nach Paris und London eröffnete 1844 der Zoologische Garten in Berlin.

Kurz zuvor hatte Gustav Werner in Stuttgart ein Café in der Sophienstraße eröffnet: ein Tiernarr, der schon als Kind Mäuse und allerlei Vögel gezüchtet hatte. Im Garten des viergeschossigen Hauses begann er bald, Vögel und Hunde zu halten. Dann kam ein Affe dazu, Prinz Schmudi von Java genannt, der ihm den Titel Affenwerner eintrug, dann ein Bär, mit dem er gegen Eintrittsgeld Dressurübungen vorführte, später auch mit einem Löwen. 1855 hatte er rund 100 Tierarten angesammelt. Nun prangte ein Schild über der Tür: „Zoologischer Garten“.

Von wissenschaftlicher Klassifikation konnte freilich keine Rede sein. Neben Leopard und Eisbär fanden sich auch Fuchs und Dachs, neben Kormoran und Pelikan Hühner und heimische Singvögel. Werner war ein Unikum. Nach seinem Tod 1870 führte der Sohn den Betrieb noch drei Jahre weiter, dann musste er schließen.

In den 1860er-Jahren bemühten sich sowohl König Wilhelm I. als auch eine private Aktiengesellschaft, einen richtigen Zoologischen Garten ins Leben zu rufen, allerdings ohne Erfolg. Stattdessen übernahm der Zimmermann Johannes Nill, der auf einem Grundstück am unteren Herdweg Tiere hielt und ein Ausflugslokal betrieb, Teile von Werners Zoo. Unter der Leitung seines Sohnes Adolf, eines studierten Tiermediziners, wurde Nills Zoologischer Garten eines der beliebtesten Ausflugsziele der Stadt. Bis zu 200 000 Besucher kamen im Jahr. Neben lebenden Tieren waren auch Präparate zu sehen, es gab Ballonfahrten und auch Völkerschauen.

Doch die Stadt wuchs an das Gelände heran. Die Grundstückspreise stiegen, und 1906 verkaufte Nill das Anwesen an die Stadt. Verschiedenste Überlegungen der Kommune, den Zoo an anderer Stelle fortzuführen, blieben ergebnislos. Stattdessen übernahm nun der Schirmfabrikant Theodor Widmann, der bereits 180 Kleintiere in seiner Wohnung hielt, einen Teil der noch übrigen Tiere von Nill und eröffnete seinerseits einen kleinen privaten Zoo am oberen Ende des Herdwegs, der bis 1942 bestand.

Für Kaiwan Mehta, der nun die Ausstellung der ifa-Galerie über zoologische und botanische Gärten kuratiert hat, ist die ganze Geschichte mehr als befremdlich. „Die Menschen distanzieren sich in ihrer Beziehung zur Natur immer mehr“, stellt er fest. „Sie verspüren dennoch das Bedürfnis, Voyeure der Tierwelt zu sein - zuzusehen, wie Tiere jagen, sich paaren, kämpfen, alles aus der Gemütlichkeit ihres Wohnzimmers heraus.“

Für die Ausstellung hat er fünf Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die das Thema auf andere Weise beleuchten. Sonia Mehra Chawlas Video von einer Fahrt durch einen Mangrovenwald zeigt für ihn die bedrohliche Seite der Natur, das Wuchern und Verschlingen - das im Video freilich nicht direkt zu sehen ist. Für die Künstlerin selbst steht die Bedrohung des Ökosystems im Mittelpunkt. Shelagh Keeley ist in Lissabon in den Jardim do Ultramar direkt neben dem Präsidentenpalast gestolpert, in dem noch die Überreste einer Völkerschau zu sehen sind, die dort 1940 mit 135 lebenden Exponaten veranstaltet wurde. Ein langes Video lässt die Blicke durch den Garten schweifen, von dessen Geschichte heute niemand mehr etwas wissen will. Keeley hat auch in der Wilhelma gezeichnet. Allerdings zeigen die Blätter, die nun eine Wand der ifa-Galerie bedecken, keine Tier- und Pflanzen-Porträts, sondern eher eine Sammlung abstrakter Formen.

Die Schriftstellerin Ruth Padel, Nachfahrin Charles Darwins und im Beirat der Zoological Society of London, hat eigens für die Ausstellung ein Gedicht über den Chimborazo Hillstar, einen Anden-Kolibri geschrieben. Weitere Text von ihr sind zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Jitish Kallat hat aus Zahngips zehn schlafende Tiere geformt: alle gleich groß, vom Schwan, der seinen Kopf zwischen die Federn steckt, bis zum Elefanten, der friedlich auf der Seite liegt. Mit zwei Videoarbeiten von Sahej Rahal verlässt die Ausstellung schließlich die Käfighaltung des Zoos und lässt die Fantasie schweifen von einem uralten verlassenen Observatorium bis in die Welt der Science Fiction.

Mehta selbst, der einmal Stipendiat und dann Juryvorsitzender der Akademie Schloss Solitude war, hat aus Bombay auch einige Exponate mitgebracht. Sie zeigen, wie dort die Welt klassifiziert wurde und wird. Unter den typischen Abziehbildern nationaler Identitäten findet sich als Inbild der Deutschen eine Frau mit Bollenhut. Im 19. Jahrhundert, als Engländer gern in die Wildnis des Schwarzwalds reisten, war die Tracht dreier Dörfer zum Stereotyp des Schwarzwaldmädels geworden. Dieses Bild hatten die Engländer dann mit nach Indien genommen.

Die ifa-Ausstellung „Eine Welt in der Stadt: Zoologische und botanische Gärten“ ist dienstags bis sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet (außer an Feiertagen). Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen (12 Euro).