Masken und Marionette: Rollenspiel gibt’s nicht. Foto: Monika Rittershaus - Monika Rittershaus

Im Stuttgarter Schauspielhaus ist E.T.A. Hoffmanns „Märchen aus der neuen Zeit“ zunächst eine Art Theatermuseum in eigener Sache: Der 85-jährige Bühnenzauberer Freyer fährt noch einmal seine bekannte und bewährte Bild-Phantasie auf. Erst der dystopisch finstere Schluss macht daraus ein beklemmendes „Märchen aus neuester Zeit“, wie es Freyer ausdrücklich im Sinn hat.

StuttgartZum Glück gibt es das Abitur, unter dessen Sternchen E.T.A. Hoffmanns wunderbare Erzählung „Der goldene Topf“ von 1814 zum Thema wird. Nicht nur für dankbare Schülerinnen und Schüler, auch für andere Leute. Denn in Erwartung jugendlichen Publikumsnachschubs greifen die Theater gern zu: Im „Goldenen Topf“ rührte vergangenes Jahr das Stuttgarter Fitz, nächste Saison rührt die Esslinger Landesbühne, jetzt das Stuttgarter Staatsschauspiel. Speziell letztere Inszenierung, die am Samstag im Schauspielhaus Premiere hatte, birgt eine Lektüreempfehlung. Ohne Vorab-Lektüre kapiert man nämlich: nichts. Löblich daran: Das Lesen lohnt sich. Hoffmanns „Märchen aus der neuen Zeit“ – sehr allgemein gesagt: eine Konfrontation von Alltagsrealität und Phantasie – ist eben kein alter Schmarrn, sondern vorweggenommener Surrealismus, alpträumerische Groteske, Grenzgang zwischen Wahn, utopischer Vision und Drogen-Trip (in Gestalt exzessiv berauschenden Alkoholkonsums).

Zieht man die Textkenntnis ab, gleicht die Stuttgarter Inszenierung einem Besuch im lebenden Theatermuseum Achim Freyer, 85-jähriger Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner. Eingeräumt sei: Museal kommt es nicht daher. Wäre Freyer 60 Jahre jünger, könnte sein goldener Bildkochtopf als Performance eines eifrigen Avantgarde-Debütanten durchgehen. So aber ist’s für ältere Zuschauer ein Real-Déjà-vu der Stuttgarter Theatergeschichte: Sie sind alle da, die bizarr verlängerten oder kurios verzwergten Gestalten, die Tiermenschen mit schlaffem Rüssel, die verschraubten Ballerinen, fischigen Glitzertransen, Wulst- und Schrumpffiguren, Kunst-, Kitsch- und Pop-Maskeraden – das ganze Freyer’sche Schaubudentrash-Personal, seit der Großmeister szenisch bewegter Bild-Phantastik in den 70ern Peymanns legendären „Faust“ ausstattete, in den 80ern an der Oper die Phil-Glass-Trilogie inszenierte oder den „Freischütz“. Und die Volkstheater-Beigaben sind ebenfalls wieder inklusive: Blasmusi aus Lautsprechern im Foyer, dazu spuken ein Schlagzeuger (Bernd Settelmeyer) als Totenkönig und eine Akkordeon-Spielerin (Anne-Maria Hölscher) mit Pausbacken-Maske durch die eintreffenden Besucher. Beide bilden dann mit schön geheimnisvollen Klängen ein treffliches Bühnenmusik-Duo zum Maskenball, auf dem Freyers Vermummungsgebot kein Schauspielerantlitz zulässt: Mimik gibt es daher so wenig wie Rollen.

Das neunköpfige Ensemble (von Boris Burgstaller bis Felix Strobel) rezitiert abwechselnd Textpassagen, taumelt in somnambulen Choreografien vor Spiegelflächen – und an der eigentlichen Pointe des Textes inszeniert Freyer völlig vorbei: der Begegnung von Wunder und Wirklichkeit, der gegenseitigen Ironisierung von Poesie und Spießertum. Hier gleicht alles dem unscharfen Blick in eine magische Glaskugel, die allenfalls zur Langeweile verzaubert – trotz nur 75-minütiger Dauer. Die Story vom Studenten und Pechvogel Anselmus, zwischen der Liebe zur prosaisch-realen Veronika und zur poetisch-phantastischen Serpentina hin- und hergerissen; die Doppelexistenz von Serpentinas Vater Lindhorst als Archivar und als gefallener Feuergeist aus Atlantis, einem fern erinnerten Reich im Ur- und Naturzustand, das nur als poetische Utopie wiederzuerlangen ist: Die Erzählungen gewinnen ohne Rollenspiel keine szenische Kontur – auch wenn Freyer den feurigen Geist in Running Gags beschwört. Ein Frosch explodiert und kommt in den Himmel, ein (echter) Hund schnappt sich eine Wurst und explodiert nicht, ein Spielzeuglaster feuert eine Rakete ab.

Dabei folgt Freyers Theaterbilderbuch zunächst fast pedantisch dem Text. Schon die Masken – bis hin zu Lady Gaga und einer Mickymaus mit Hitlerbart – greifen die Commedia dell’arte des Carlo Gozzi auf, Hoffmanns erklärtes Vorbild. Anselmus’ fatale Kollision mit dem Korb eines hexenhaften Äpfelweibs wird zum lärmenden Obst-Bombardement, zur ersten Begegnung mit Serpentina (auf Deutsch: die Geschlängelte) werden kalligraphische Schlangenlinien und lippenstiftrote Münder projiziert, zu den sozialen Aufstiegsträumen Veronikas biedere Disney-Märchencomics. Kristalline Liniengeflechte spiegeln das Kristall-Motiv des Textes (ein Todessymbol), nach dem Sturz des in einer Kristallflasche eingesperrten Anselmus in die Arme der bräutlich-mütterlichen Serpentina scheint Freyer jenen Interpretationen zu folgen, die darin Anselmus’ Suizid sehen: Die Marionette auf einem Stühlchen, Puppenbild der Hauptfigur, ist umgekippt. Soweit und mit vielem mehr eine reich wimmelnde Illustration für Textkenner, kein Theaterstück.

Danach geht es auf der Bühne freilich um einen kollektiven Tod. Die Szenerie wird zum Totentanz, die Brautschleier etwa der nunmehr einem „Ersatzmann“ angetrauten Veronika entschweben als Totenschleier. Aber ein Märchen nicht aus neuer, sondern ausdrücklich aus „neuester Zeit“ will Freyer erzählen – doch von Aktualisierung keine Spur. Oder doch? Am Ende der Erzählung geht Anselmus in das utopische Reich Atlantis ein, wird selbst zur poetischen Phantasie, zur Schrift. Bei Freyer aber geht das Licht aus, die Bühne ist leer, finstere Dystopie tötet Utopie und Phantasie. Schwarze Gestalten – man mag Kabbalisten assoziieren, jüdische Schriftmystiker – schreiten im Finsteren durch einen Spalt ins Nichts. Atlantis wird zu Auschwitz. Eine Warnung in einer rechtsnational umkippenden Welt, undeutlich zwar, dennoch stärker und präsenter als der Rest der Inszenierung.

Nächste Vorstellungen: 23. und 31. Mai, 8., 20. und 21. Juni, 14., 18. und 19. Juli.