Blicke in die Zukunft, die woanders ist: Ballettintendant Reid Anderson (links), Opernchef Jossi Wieler (Zweiter von links) und Schauspielintendant Armin Petras (rechts) verlassen das Staatstheater nach der kommenden Saison. Geschäftsführer Marc-Oliver Hendriks bleibt dem Haus erhalten. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger, Angela Reinhardt und Thomas Krazeisen

Stuttgart - Wenn’s am Schönsten ist, soll man aufhören? Ob der Spruch auch am Stuttgarter Staatstheater gilt, wird man am Ende der kommenden Spielzeit wissen. Im Sommer 2018 verlassen alle drei Spartenchefs das Haus, an der Oper wird dann Jossi Wieler von Viktor Schoner abgelöst, am Ballett folgt Tamas Detrich auf Reid Anderson und am Schauspiel Burkhard C. Kosminski auf Armin Petras.

Was Opernchef Wieler gestern bei der großen Spielplan-Pressekonferenz als Abschiedssinfonie bekanntgab, war freilich nicht neu. Pflegt doch die Oper seit einigen Jahren ihre neue Saison bereits im März vorzustellen (wir berichteten). Den Premierenreigen eröffnet der Regisseur Kirill Serebrennikov mit einem Stück, das man nicht unbedingt mit dem russischen Avantgardisten in Verbindung bringen würden: mit Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“. Serebrennikov, der sich seit seiner sensationellen Stuttgarter „Salome“ vor internationalen Anfragen kaum retten kann, bekam gestern leider auch außerkünstlerischen Besuch: Die Polizei durchsuchte seine Moskauer Wohnung und sein Theater, teilte Wieler mit. Laut weiteren Informationen wird nicht gegen den Regisseur ermittelt, er sei nur Zeuge in einem Verfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder im Jahr 2014. Beobachter werten das Vorgehen trotzdem als Versuch des russischen Staatsapparats, auf den kritischen Theatermann Druck auszuüben.

Aktuell und kritisch verspricht denn auch seine „Hänsel und Gretel“-Inszenierung zu werden. Wieler kündigt ein crossmediales Ereignis an: mit im April in Ruanda gedrehten Filmaufnahmen afrikanischer Kindern, die aus sozialem Elend nach Stuttgart und in den deutschen Wald geraten.

Überhaupt setze der Abschiedsspielplan entschieden politische Akzente, betont Sergio Morabito, Chefdramaturg und Wielers Musiktheater-Regiepartner. Mit Cherubinis „Medea“ etwa steht die Tragödie einer „Barbarin“ auf dem Programm, der in einem zivilisierten Land Asyl und familiäre Integration verweigert wird - mit grausamen Folgen. Peter Konwitschny inszeniert eine deutschsprachige Fassung der französischen Dialogoper von 1797.

Donizettis scheinbar unbeschwerte Musikkomödie „Don Pasquale“ erklärt Morabito vorab schon mal zu einem „kapitalismuskritischen“ Abgrund. Regie führt das Wieler-Morabito-Gespann. Für den Doppelabend mit Dallapiccolas „Der Gefangene“ und Wolfgang Rihms „Das Gehege“ nach der Finalszene aus Botho Strauss’ „Schlusschor“ - dem bizarren Paarungsversuch einer Frau mit dem (Bundes-)Adler - kehrt jenes Team nach Stuttgart zurück, das 2015 mit Rihms „Jakob Lenz“ zur „Aufführung des Jahres“ avancierte: die Regisseurin Andrea Breth, der Bühnenbildner Martin Zehetgruber, der Dirigent Franck Ollu und der großartige Bariton Georg Nigl.

Der Juli 2018, letzter Monat der siebenjährigen Wieler-Intendanz, steht zum Abschied unter dem Motto „Hochsaison“ - mit einer Buchpräsentation, einem Sommerfest, Public Viewings und vor allem der Uraufführung von Toshio Hosokawas „Erdbeben. Träume“. Wieler und Morabito inszenieren, Marcel Beyer schrieb das Libretto nach Kleists „Erbeben in Chili“ - mit Weiterungen in die Gegenwart und fokussiert auf das Umschlagen „einer Naturkatastrophe in soziale Gewalt“, wie Morabito sagt.

Was der Chef persönlich mag

Sie tröpfelt so ein bisschen aus, Reid Andersons 22-jährige Direktion beim Stuttgarter Ballett. Für seine letzte Spielzeit versammelt der Ballettintendant all das, was er ganz persönlich mag: wertvolle, aber altbekannte Klassiker wie Frederick Ashtons „Fille mal gardée“, die „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins und natürlich viel Cranko - vier Einakter, „Schwanensee“ und „Onegin“. Immerhin gilt es, den 90. Geburtstag des Ballettwunder-Gründervaters zu feiern. Im September widmet sich der „Blick hinter die Kulissen“ in einer XXL-Fassung komplett dem großen Choreografen. Gefeiert wird ebenfalls der 80. Geburtstag von Jürgen Rose und der 50. von „Onegin“. Außerdem kehrt nach vielen Jahren Christian Spucks „Lulu“ zurück: Der einstige Hauschoreograf, inzwischen zum Züricher Ballettdirektor aufgestiegen, überarbeitet die „Monstretragödie“ nach Frank Wedekind.

Fast verschämt stecken die fünf Uraufführungen der Saison alle in einem einzigen Abend im Schauspielhaus: Marco Goecke, Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Roman Novitzky und Fabio Adorisio stellen die gesamte choreografische Hausmacht der Kompanie dar und werden ihrem scheidenden Chef hoffentlich die eine oder andere Überraschung mit auf den Weg geben.

Die Frage ist nur, wer das alles tanzen soll. Denn nach den vielen männlichen Solisten, die sich im Lauf der vergangenen Jahre verabschiedet haben, geht der Verlust jetzt an die Substanz: Mit Constantine Allen und Pablo von Sternenfels haben zwei wichtige Stützpfeiler gekündigt, beide aus privaten, nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, beide ohne eine Ahnung, wo sie in Zukunft arbeiten werden. Junge Talente gibt es genug, die Cranko-Schule liefert regelmäßig Nachschub, aber sie sind derzeit noch sehr jung - spannend wird, wie Anderson etwa die schwierigen „Initialen R.B.M.E“ besetzen will. Sehr schade auch um Adam Russell-Jones, der zum Nederlands Dans Theater 2 geht. Vier Eleven kommen von der Cranko-Schule, vier weitere Tänzer aus London, Amsterdam, Zürich und Mailand. Der neue brasilianische Halbsolist Moacir de Oliveira war in Rio de Janeiro immerhin schon Erster Solist. Beendet wird die Spielzeit mit einer Festwoche für Reid Anderson samt zwei großen Galas, die beim Ballett im Park für ganz Stuttgart übertragen werden.

Umtriebig bis zum Schluss

In seiner letzten Stuttgarter Saison präsentiert Schauspielchef Armin Petras noch einmal ein dichtes Programm mit insgesamt 16 Produktionen, darunter fünf Uraufführungen und etliche Koproduktionen. Der umtriebige Theatermann wird gleich dreimal selbst inszenieren, nämlich die Uraufführung der Mehrfach-Koproduktion „Der Scheiterhaufen“ nach dem Roman von György Dragomán, den Wedekind-Klassiker „Lulu“, der als Rockmusical mit Musik von The Tiger Lillies auf die Bühne kommt, sowie zum Finale George Orwells Überwachungs-Klassiker „1984“.

Roman-Dramatisierungen bleiben auch in der kommenden Spielzeit eine feste Formatgröße. Den Auftakt macht aber ein klassisches Bühnenstatement: Goethes „Faust“, für Petras „das wichtigste Stück der deutschen Literatur“. Der Tragödie erster Teil wird in einer Inszenierung von Stephan Kimmig zu sehen sein. Neben dem gebürtigen Stuttgarter, schon unter Petras’ Vorvorgänger Friedrich Schirmer Hausregisseur in seiner Heimatstadt, kehren weitere erfolgreiche Theatermacher an den Eckensee zurück; allen voran der am längsten gediente: Claus Peymann. Der langjährige Chef des Berliner Ensembles und ehemalige Stuttgarter Schauspieldirektor wird als freier Regisseur mit Shakespeares „König Lear“ an seine einstige Wirkungsstätte zurückkehren - mit Martin Schwab steht zudem ein ehemaliger Stuttgarter in der Titelrolle auf der Bühne. Mit René Pollesch und Sebastian Baumgarten kommen zwei weitere Theatergrößen, die das Stuttgarter Schauspiel in den vergangenen Jahren mit geprägt haben.

Neben bekannten Namen setzt Petras wieder auf junge Talente - etwa auf Kay Voges, der mit der Uraufführung „Das 1. Evangelium“ nach dem Matthäusevangelium Fragen von Glauben und Glaubensverlust und den Passionen dieser Welt thematisiert. Zur jungen Garde zählt auch Jan-Christoph Gockel, der bei seiner ersten Arbeit am Stuttgarter Staatsschauspiel die Roman-Adaption „Moby Dick“ im Kammertheater mit Darstellern und Puppen in Szene setzen wird.

Als Dialogplattform wird in der neuen Spielzeit ab September das Nordlabor wieder geöffnet. Im Nord, im Kammertheater und im Schauspielhaus findet vom 6. bis 10. Juni 2018 ein Festival in Kooperation mit Bühnen und Theaterschaffenden aus neun europäischen Ländern statt, auf dem Zukunftsszenarien für das krisengeplagte Europa entworfen werden sollen.

www.staatstheater-stuttgart.de

Die premieren an Oper, Ballett und Schauspiel im Überblick

Oper

Engelbert Humperdinck: Hänsel und Gretel. Premiere am 22. Oktober 2017. Regie, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov. Video: Ilya Shagalov. Musikalische Leitung: Georg Fritzsch.

Luigi Cherubini: Medea. Premiere am 3. Dez 2017. Regie: Peter Konwitschny. Musikalische Leitung: Alejo Pérez.

Gaetano Donizetti: Don Pasquale. Premiere am 25. März 2018. Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito. Musikalische Leitung: Giuliano Carella.

Luigi Dallapiccola: Der Gefangene. Wolfgang Rihm: Das Gehege. Premiere am 26. April 2018. Regie: Andrea Breth. Musikalische Leitung: Franck Ollu.

Toshio Hosokawa: Erdbeben. Träume. Libretto von Marcel Beyer nach Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“. Uraufführung am 1. Juli 2018. Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito. Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling.

Junge Oper

Marius Felix Lange: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier. Nach dem Buch von Janne Teller und mit Gedichtinseln von Nora Gomringer. Für Zuschauer ab 14 Jahren. Uraufführung im Kammertheater am 27. April 2018. Regie: Elena Tzavara. Musikalische Leitung: Marius Felix Lange.

on_the_line. Performatives Musiktheater von Jugendlichen, mit Jugendlichen und für Jugendliche ab zwölf Jahren. Uraufführung am 1. Juni 2018 im Kammertheater. Kompositorische Betreuung: Julian Siffert. Szenische Realisation: Severin Gmünder.

Ballett

Cranko pur. Choreografien von John Cranko: L’Estro Armonico (Musik: Antonio Vivaldi), Brouillards (Musik: Claude Debussy), Jeu de Cartes (Musik: Igor Strawinsky). Premiere am 3. Oktober 2017 im Opernhaus.

Dances at a Gathering. Choreografie: Jerome Robbins. Musik: Frédéric Chopin. Initialen R.B.M.E. Choreografie: John Cranko. Musik: Johannes Brahms. Premiere am 13. Januar 2018 im Opernhaus.

Die Fantastischen Fünf. Uraufführung von Choreografien von Marco Goecke, Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Roman Novitzky und Fabio Adorisio. Premiere am 23. März 2018 im Schauspielhaus.

Lulu. Eine Monstretragödie. Ballett von Christian Spuck frei nach Frank Wedekind. Musik: Dimitri Schostakowitsch, Alban Berg, Arnold Schönberg. Premiere der Neufassung am 6. Juni 2018 im Opernhaus.

Schauspiel

Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Regie: Stephan Kimmig. Premiere am 7. Oktober 2017 im Schauspielhaus.

Das große Heft nach dem Roman von Ágota Kristóf. Regie: Jonas Corell Petersen. Premiere am 8. Oktober 2017 im Nord.

Der Scheiterhaufen nach dem Roman von György Dragomán. Regie: Armin Petras. Premiere am 14. Oktober 2017 im Nord.

René Pollesch: Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft? Regie: René Pollesch. Uraufführung am 27. Oktober 2017 im Schauspielhaus.

Frank Wedekind: Lulu. Eine Monstretragödie. Mit Musik von The Tiger Lillies. Regie: Armin Petras. Premiere am 24. November 2017 im Nord.

Der Zauberer von Oz nach dem Roman von L. Frank Baum. Für Zuschauer ab sechs Jahren. Regie: Wolfgang Michalek. Premiere am 26. November 2017 im Schauspielhaus.

Das 1. Evangelium frei nach dem Matthäus-Evangelium. Regie: Kay Voges. Uraufführung am 19. Januar 2018 im Schauspielhaus.

Moby Dick nach dem Roman von Herman Melville. Regie: Jan-Christoph Gockel. Premiere am 20. Januar 2018 im Kammertheater.

William Shakespeare: König Lear. Regie: Claus Peymann. Premiere am 16. Februar 2018 im Schauspielhaus.

Ein Sommernachtstraum im Cyber Valley. Shakespeares Zauberwald als psychedelisches Maschinenklangländle von und mit Schorsch Kamerun. Uraufführung am 23. Februar 2018 im Kammertheater.

Hofmann & Lindholm: Ein neues Stück nach einem Motiv aus Goethes „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“. Der Titel steht noch nicht fest. Regie: Hofmann & Lindholm. Uraufführung am 16. März 2018 im Nord.

Eine Inszenierung von Lilja Rupprecht. Das Stück steht noch nicht fest. Premiere am 13. April 2018 im Schauspielhaus.

Oscar Wilde: Salome. Regie Sebastian Baumgarten. Premiere am 10. Mai 2018 im Schauspielhaus

Eine Inszenierung von Martin Laberenz. Das Stück steht noch nicht fest. Premiere am 26. Mai 2018 im Nord.

1984 nach dem Roman von George Orwell. Regie: Armin Petras. Premiere am 27. Mai 2018 im Schauspielhaus.