Joan Baez bei ihrem Auftritt vor dem Ludwigsburger Schloss. Foto: factum/Weise Quelle: Unbekannt

Joan Baez’ bewegendes Abschiedskonzert vor 4800 Besuchern im Ludwigsburger Schloss

LudwigsburgZuerst wandert eine weiße Teetasse auf die Bühne und dann, wenige Minuten nach acht, ihre Besitzerin. Ohne Pomp, ohne Allüren schlendert Joan Baez auf die Bühne, gekleidet schlicht in blaue Jeans, schwarzes Hemd und offene Schuhe. Sie lächelt, winkt kurz in den aufbrandenden Applaus. Dann macht sie das, wofür die Welt sie seit 60 Jahren verehrt: Sie schnallt sich ihre Gitarre um und fängt an zu singen – allein.

Das mag sich nach relativ wenig anhören. In Zeiten, in denen ein Konzert meist eine möglichst bombastische und laute Aneinanderreihung von Spezialeffekten ist, wirkt die zierliche Dame mit den silbernen Haaren auf dieser großen Bühne fast ein wenig verloren. Fast. Denn schon mit dem ersten Wort und dem ersten Akkord ist all das vergessen. Joan Baez schafft allein, was sonst kein megalomanisches Pop-Spektakel in Riesenarenen oder gar auf dem Cannstatter Wasen schafft: Die Amerikanerin zieht die Menschen sofort in ihren Bann.

Das ist seit Jahrzehnten so. 4800 Besucher im bis auf den letzten Platz gefüllten Ehrenhof des Ludwigsburger Schlosses versinken in andächtige Stille. Joan Baez ist eine Sängerin, der man zuhört, die man ausreden lässt und die vor allem etwas zu sagen hat. Das tut sie an diesem Abend vorwiegend mit den Songs anderer Künstler. Doch durch sie liegt immer auch ein gutes halbes Jahrhundert Protestkultur in jeder Zeile. Man muss ihr nur zuhören, um zu wissen, wo sie steht. Aus Liedern werden Leuchtfeuer, die wirkungsvoller sind als jede Hashtag-gesteuerte Bewegung.

Hommage an Bob Dylan

Es ist deswegen vielsagend, dass sie den Abend ausgerechnet mit „Don’t think twice, it’s all right“ eröffnet. Die Nummer wird bei Weitem nicht der einzige Bob-Dylan-Song des Abends bleiben. Durchaus ein Statement: Nach vielen Jahren, in denen sie ihre Liaison mit dem Folk-Sänger (und deren unrühmliches Ende durch ein eiskaltes Abservieren seinerseits) am liebsten vergessen hätte, hat sie ihren Frieden gemacht damit. Sie kann jetzt, mit 77 Jahren, wieder offen darüber sprechen und seine Lieder mit jener entrückten Hingabe singen, in die sich einst auch Dylan verliebte. Deswegen gibt es in der ersten Hälfte des Konzerts mit „Farewell Angelina“ und „It’s all over now, Baby Blue“ gleich zwei weitere unvergessliche Dylan-Stücke, pur, rein und seelenvoll von ihr interpretiert. Besucher seiner Konzerte bekommen diese Songs mittlerweile gar nicht mehr zu hören – und wenn doch, dann erkennen sie diese in ihren neuen Interpretationen nicht wieder. Das ist bei Joan Baez anders. Auch ihre Stimme hat in den letzten Jahrzehnten eine Reise unternommen, wurde tiefer, voller und auch ein wenig rauer. Aber eben nicht weniger bewegend, nicht weniger sublim. „Sie hat eine Stimme, die böse Geister austreibt“, sagte Dylan einst dazu. Und seine Worte gelten bis heute.
Mittlerweile um ihre „Big Band“ verstärkt, wie sie schmunzelnd verkündet, stimmt sie mit „Whistle down the Wind“ einen wunderschönen, von Tom Waits für sie geschriebenen Song an. Ihr Sohn Gabriel Harris ist in Ludwigsburg mit dabei. Er setzt als Perkussionist zurückhaltende, aber prägende Akzente. Zu ihrer Rechten bereichert Dirk Powell ihre Stücke mit seinem schier unerschöpflichen Fundus aus Banjos, Gitarren, Geigen aus den nordamerikanischen Appalachen, treibt den unverwüstlichen Klassiker „The Night they drove old Dixie down“ aber auch mal mit seinem enthemmten Pianospiel locker in Richtung einer Swing-Nummer aus New Orleans.

Zeitlosigkeit des Flüchtlingsdramas

Überwiegend bleibt Joan Baez ihrem Kanon indes treu. In einigen Songs wird sie von der kapitalen Grace Stumberg am Gesang verstärkt, einer echten Entdeckung mit Adele-Stimmumfang. Vor dem betroffen machenden „Deportee (Plane Wreck at Los Gatos)“, geschrieben 1948 von Woody Guthrie, betont sie die Zeitlosigkeit des Flüchtlingsdramas. Nicht zum einzigen Mal erntet sie Szenenapplaus dafür, beim Singen merkt man ihr an, dass sie sichtlich ergriffen ist. Bei „The President sang Amazing Grace“ macht sie zu bewegenden Akkorden klar, dass ihr Präsident nicht etwa Donald Trump heißt, sondern fürs Erste Obama bleiben wird. Barack Obama, der – so erzählt das Lied – nach dem Massaker in Charleston bei der Trauerfeier „Amazing Grace“ anstimmte.

Es sind kleine Gesten wie eine von „the President“ in „my President“ umgedichtete Zeile, die ihrem Konzert in Ludwigsburg einen dezidiert politischen Anstrich verleihen. Natürlich erwartet man von einer wie ihr nichts anderes. Sie ist schließlich nicht nur Musikerin, sondern auch Fürsprecherin der LGBTQ-Bewegung und der Gleichberechtigung, Kämpferin gegen den Klimawandel, Vorreiterin der Friedensbewegung und noch Tausender anderer Dinge mehr. Es zeichnet eine große Aktivistin wie sie aber eben aus, dass sie bewusst die leisen Töne wählt, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. Es wird schon zu viel gebrüllt in dieser Welt, da muss sich eine 77-jährige Sängerin nicht einreihen. Und beweisen muss sie schon gar nichts mehr.

In der Zugabe, so scheint es, will sie es dann aber noch mal wissen. Mit „Sagt mir, wo die Blumen sind“ sorgt sie für reichlich Gänsehaut, mit ihrer unsterblichen „Imagine“-Darbietung sowieso. Aus Hunderten Kehlen erschallt der Text, der im Jahr 2018 so utopisch scheint wie eh und je. Die Verbitterung in ihrer Stimme ist echt. Die kann man nicht spielen. Bevor sie einen unbeschreiblichen Konzertabend mit dem bittersüßen Volkslied „Donna Donna“ beschließt, trägt sie den Text von Bettina Wegeners „Kinder“ auf Deutsch vor. Eine Zeile daraus wird noch in den Köpfen der Menschen sein, wenn sie schon wieder zu Hause sind: „Grade klare Menschen wär’n ein schönes Ziel / Leute ohne Rückgrat hab’n wir schon zu viel.“ Ein solcher „grader klarer“ Mensch hat gerade eben die Bühne verlassen – und wird nicht zu ersetzen sein.