Während des Nationalsozialismus hat der Schriftsteller Thomas Mann in den USA Zuflucht gefunden. In Marbach folgt man ihm in die Neue Welt und in den Kampf um Humanität in düsteren Zeiten. Was man dabei erfährt, kommt dem heutigen Betrachter näher, als ihm lieb sein kann.

MarbachVier riesige, von langen Reisen gezeichnete Koffer stehen am Anfang. Die Familie Mann verlässt 1938 Europa, um in Amerika Zuflucht zu finden. Seit 1933 hatte sie im Schweizer Exil gelebt. Gedrängt von seinen Kindern entschließt sich der anfangs zögerliche Großschriftsteller, gegen das Hitler-Regime offen Stellung zu beziehen. Bereits 1933 ist Thomas Manns Bruder Heinrich neben Ernst Toller, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky auf einer Seite des „Illustrierten Wochenblatts“ zu sehen – unter der fetten Überschrift „Volksverräter ausgestoßen aus der deutschen Volksgemeinschaft“. Ein Jahr später titelt die New Yorker „Herald Tribune“ ganzseitig: „The Most Eminent Living Man of Letters“ – „der bedeutendste lebende Autor“. 1949 schließlich findet man sein Foto auf einer Seite der Illustrierten „Life“ in Gesellschaft mancher zuvor aus der deutschen Volksgemeinschaft Ausgestoßener wie Albert Einstein: nun als Kommunistenfreunde gebrandmarkt und „unamerikanischer Umtriebe“ verdächtigt.

Das ist der Bogen, den die neue, hochkonzentrierte Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne spannt: „Thomas Mann in Amerika“. Zwar besitzt Marbach die Taufkleidchen des Schriftstellers, doch das Gros der in einem dreigliedrigen Aufriss – Notizen, Manuskripte, Materialien – gezeigten Exponate stammt aus dem Thomas-Mann-Archiv in Zürich. Was die Kuratoren Ellen Strittmatter und Marc Wurich daraus gemacht haben, sieht auf den ersten Blick so aus, wie Literaturausstellungen gerne einmal aussehen: viele Zettel hinter Glas. Und trotzdem trägt man so starke Eindrücke wie selten davon. Denn was hier präsentiert wird, ist kein selbstverliebtes Glasvitrinenspiel, sondern die stringente Erzählung, wie einer der größten Autoren des 20. Jahrhunderts von den sich verdüsternden Verhältnissen politisiert und ins Exil getrieben wird.

Es geht um das Verhältnis von Literatur und Engagement, um die frappierende Wechselhaftigkeit und Instabilität, durch die sich ein Ort der Freiheit binnen kürzester Zeit in einen der Unfreiheit verkehren kann. Kurzum, es geht um Dinge, die dem heutigen Betrachter näher kommen, als ihm lieb sein kann. Etwa wenn er den jüngsten wirtschaftlich motivierten Treueschwur des aktuellen amerikanischen Präsidenten an den saudischen Kronprinzen im Ohr auf die verantwortungsvolle Beziehung von Ökonomie und Moral gestoßen wird, wie sie Thomas Mann unter dem Eindruck von Franklin D. Roosevelts Politik im letzten Band seiner Josephs-Tetralogie entwickelt.

Zwei Mal sieben Jahre hat Thomas Mann in den USA verbracht wie Joseph im Hause Labans. Sieben Jahre, in denen ihm Amerika zur politischen Kornkammer gegen den barbarischen Ausverkauf aller Werte durch den Nationalsozialismus wurde. Sieben weitere Jahre, in denen sich der schützende Hort zu Beginn des Kalten Kriegs in einen feindlichen Ort verwandelt. In der kürzlich von Deutschland erworbenen und vor dem Abriss bewahrten Villa in Pacific Palisades entstanden die Romane „Doktor Faustus“, „Joseph, der Ernährer“ und „Der Erwählte“. Von hier aus richtete Mann seine Appelle an die „Deutschen Hörer“, um sie zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu bewegen. „Mein Werk wird eines Tages zu Euch zurückkehren“, liest man in einem Manuskript von 1941.

Wie sehr dieses Werk zum zentralen Austragungsort der politischen Überzeugungen angesichts des nationalsozialistischen Weltenbrands wird, rücken drei Konstellationen ins Licht: der Ausgleich ökonomischer Interessen mit moralischen Gewissheiten in dem für die eigene Gegenwart transparent gewordenen biblischen Mythos der Josephs-Geschichte; der Antagonismus von klassischer Harmonielehre und Zwölftontechnik, Freiheit und Gebundenheit, Kultur und Barbarei im „Doktor Faustus“; schließlich das Konzept einer Sprache über allen Sprachen, wie es „Der Erwählte“ ausprägt – und es ist pikant zu verfolgen, wie in einem Manuskript der Inzestszene eben nicht nur die Geschwister-Eltern der Hauptfigur, sondern auch das Mittelhochdeutsche und das Französische zusammenfinden.

Die praktische Seite des politischen Engagements dokumentieren Empfehlungsschreiben für Siegfried Kracauer, Hermann Broch oder Karl Wolfskehl. „Schutzherr des Stammes der Schriftsteller“ nannte ihn Ludwig Marcuse. Die Villa wurde zum „Weißen Haus des Exils“, und der Hausherr übernahm selbstbewusst die Repräsentation eines Landes, dessen Machthaber dabei waren, seinen Ruf für immer zu besudeln. „Wo ich bin, ist Deutschland“, notierte Thomas Mann 1938 in sein Tagebuch.

Die Kehrseite der Texte sind Bilder. Auf der Rückfront der Vitrinen lässt sich in fotografischen Folgen und Filmen der Prozess der Inszenierung und Neuerfindung der Dichter-Imago nachvollziehen: von der klassischen Denkerpose mit aufgestütztem Arm bis zur heroisierenden Untersicht, in der sich amerikanische Politiker in Szene setzten. Auf einem Foto prunkt Mann im Ornat des Ehrenrektorats der University Dubuque. In Deutschland war ihm die Ehrendoktorwürde der Bonner Universität 1936 entzogen worden. Ein von bitterer Ironie getragenes Schreiben an den Dekan zirkulierte als Tarnschrift unter dem Titel „Briefe Deutscher Klassiker“ in dem Land, von dem sich der Nobelpreisträger innerlich längst abgewandt hat.

Die Ausstellung ist auch ein letzter Gruß an den jüngst verstorbenen Mäzen und Thomas-Mann-Kenner Berthold Leibinger. Er hatte nicht nur maßgeblichen Anteil am Erwerb des kalifornischen Hauses durch die Bundesrepublik, sondern wirkte für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ähnlich segensreich wie Joseph in Ägypten.

Mit „Thomas Mann in Amerika“ heißt es auch Abschied nehmen vom Leiter der Marbacher Institute, Ulrich Raulff, der zudem die in den letzten beiden Jahren für das Literaturmuseum zuständige Ellen Strittmatter an seine neue Wirkungsstätte, das Institut für Auslandsbeziehungen, mitnimmt. Dass man die Schau bewegt verlässt, verdankt sich ebenso ihrem klugen kuratorischen Ingenium wie dem Bewusstsein, auf dieses fortan hier verzichten zu müssen.

Bis 30. Juni. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von10 bis 18 Uhr.