Der Einzelkämpfer: Gian Rupf als Tyrannenmörder Wilhelm Tell. Foto: Martin Sigmund - Martin Sigmund

Der Regisseur Klaus Hemmerle lässt Schillers Tyrannenmord-Drama in der Gegenwart spielen. Seine spannende Inszenierung rückt die argumentative Seite des Schauspiels ins Zentrum – und den Schweizer Gründungsmythos in eine europäische Perspektive.

Stuttgart Bei der Siegesfeier im „Haus der Demokratie“ fehlt der frisch gebackene Volksheld. Seine Armbrust, mit der er den tyrannisch-brutalen Reichsvogt Geßler tötete, ziert schon die Wand: als Ikone des gelungenen Widerstands, als Museumsstück. Während das geeinte Volk, befreit vom habsburgischen Joch, ihn hochleben lässt, hat Wilhelm Tell längst wieder anderes zu tun. Er schleppt den entkräfteten, flüchtigen Kaisermörder Parricida auf dem Rücken gen Vatikan, damit der dort dem Papst sein Verbrechen beichte. Denn Tell, der sein eigenes Tötungsdelikt als „gerechte Notwehr eines Vaters“ rechtfertigt, verurteilt Parricidas Tat als unmoralisch, weil sie aus Selbstsucht geschah.

Charismatischer Haudegen

In Klaus Hemmerles Inszenierung von Friedrich Schillers letztem, 1804 vollendetem Drama „Wilhelm Tell“, die jetzt am Stuttgarter Alten Schauspielhaus Premiere hatte, will sich der Titelheld nicht in die Gemeinschaft fügen. Er bleibt ein Einzelkämpfer. Mit dem Schweizer Gian Rupf hat man für den legendären Freiheitskämpfer eine geradezu ideale Besetzung gefunden: Groß, schlank, kräftig überragt der 52-Jährige alle anderen auf der Bühne. Sein Tell ist ein Naturbursche mit Vollbart und wilder Mähne, ein charismatischer Haudegen, einer, der seine schier überbordende Kraft gelegentlich beim Holzhacken entladen muss. Sinnbildlich bringt er die Wand des „Hauses der Demokratie“, in dem Hemmerle das Stück beginnen und enden lässt, mal kurz aus der Fassung, um ans Ufer des Vierwaldstättersees zu gelangen. Klar, dass sich so einer nicht richtig ins parlamentarische Leben eingliedern ließe, auch wenn er immer beherzt zupackt, wenn andere Hilfe brauchen. Tell lässt sich eben nur von den eigenen moralischen Paradigmen leiten.

Argumente vor Tyrannenmord

Gespielt wird eine auf zweieinhalb Stunden verschlankte Fassung. Hemmerle hat Schillers Klassiker mit Bedacht ins Heute geholt. Er unterstreicht in seiner Inszenierung die argumentative Seite des Dramas: Hier werden zwar Tyrannen gemordet, aber Andersdenkende, Abtrünnige werden von den zukünftigen Eidgenossen durch Worte auf die eigene Seite gezogen – wie etwa der habsburghörige Adelige Rudenz, dem Gunnar Blume in geschniegeltem Anzug-Outfit den Touch eines wendigen, vor allem wirtschaftliche Interessen verfolgenden FDP-Politikers verpasst. Da macht sein Spruch „Wohltat ist’s und weise Vorsicht, in diesen Zeiten der Parteiung sich anzuschließen an ein mächtig Haupt“ doppelt Sinn. Hemmerles Ansatz ist stimmig, kommt es bei Schiller doch erst nach langen Diskussionen und Abwägungen zum berühmten Rütli-Schwur („Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“), der die Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden vereinen wird wider die Habsburger Knute. Also wird das „Haus der Demokratie“ samt Rednerbühne im besten Sinne zur Begegnungsstätte der nunmehr kampfwilligen Unterdrückten – alles unter der Wortführung Stauffachers, der stets einen kühlen Kopf bewahrt. Andreas Klaue – als Anzugträger mit rotem Schal – spielt ihn mit dem diplomatischen Ernst eines sozialdemokratischen Parteipolitikers und erinnert darin – wohl nicht ungewollt – ein bisschen an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Jedenfalls läuft die Uhr ab für den sadistischen, gewalttätigen, dumpfen Machtmenschen Geßler (in schwarzem Ledermantel und mit grauem Zöpfchen: Peter Kaghanovitch), der mit unsinnigen Schikanen die Menschen demütigt und schließlich Tell zwingt, auf sein eigenes Kind zu schießen. Es ist ein pfiffiger Einfall, einige der überwiegend männlichen Rollen mit Frauen zu besetzen. So wird etwa Tells Sohn, der sich vom Vater den Apfel vom Kopf schießen lassen muss, von Antonia Leichtle als mutige, kecke Tochter gespielt.

Das Bühnenbild von Ralph Zeger ist flugs wandelbar: Die hellen Wände des „Hauses der Demokratie“ drehen sich schon bald und zeigen ihre dunkle Rückseite, wo Leitern und Zwischenstiege Spiel- und Kletterräume schaffen. Schillers Regieanweisungen, die die alpine Idylle rund um den Vierwaldstättersee mit ihren Almen und Dörfern beschreiben, werden von Verena Buss rezitiert und ersetzen so die im Bühnenbild fehlenden Farben, während Gewitterdonnerschläge etwas übertrieben jeden Szenenwechsel einleiten.

Ein Großteil des zwölfköpfigen, durchweg spielfreudigen Ensembles übernimmt mehrere der zahlreichen Rollen. Die Maskenbildnerinnen leisten hier ganze Arbeit: etwa im Falle des Rudenz-Darstellers Gunnar Blume, der als Konrad Hunn nicht wiedererkennbar ist.

Akkorden, Posaune, Milchkanne

Kongenial ist die Bühnenmusik von Nina Wurman, die vom Ensemble selbst übernommen wird. Unaufdringlich schafft sie Atmosphäre: ob mit Schweizer Volksliedern oder „Die Gedanken sind frei“, mal gesungen, mal gesummt, mal instrumental unterlegt vom burschikosen Dreigespann Kuoni, Werni und Ruodi (Lisa Wildmann, Antonia Leichtle und Laura Sauer) in Lederhosen, Regenjacke und Daunenweste. Die Drei vertreten schließlich die Interessen der Naturmenschen: Hirten, Jäger, Fischer. Dementsprechend sanft und bordungeerdet ist die Musik, die ihr Trio aus Akkordeon, Posaune und Milchkanne erklingen lässt.

Und schließlich sorgt die Musik auch für eine bemerkenswerte Umdeutung des Schweizer Gründungsmythos. Nicht nur zu Beginn und am Ende dieses durchweg spannenden Abends summen und singen die Menschen auf der Bühne die berühmteste aller Schiller-Vertonungen, Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“, seit 1972 offizielle Europa-Hymne, die das Stück subtil in den Kontext europäischer Einheit stellt und seine Botschaft „Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden“ in eine deutliche Richtung biegt.

Weitere Vorstellungen bis 19. Oktober.