Einer trägt des anderen Last: Muskelprotz Lennie (Antonio Lallo) nimmt seinen Kumpel George (Christian A. Koch) zum Scherz auf die Schultern. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Jürgen Esser hat John Steinbecks Wanderarbeiter-Tragödie von 1937 mit dem fulminanten Ensemble klug und unverstellt inszeniert. Bezüge zu heutigen Ausbeutungs- und Prekarisierungsprozessen werden auch ohne aktualistische Manöver sichtbar.

EsslingenEin denkwürdiges Duo: Dünn und Doof, Asterix und Obelix, aber auch eine Vorwegnahme der rätselhaft verbundenen Männerpaare Samuel Becketts. Nur warten George und Lennie nicht auf Godot, wohl aber aufs gelobte Land: den eigenen Grund und Boden, die eigene kleine Farm – irgendwo im wilden kalifornischen Agrarkapitalismus-Westen, wo die beiden Wanderarbeiter für kargen Lohn schuften und vom Landerwerb träumen. Endlich die Früchte der schweißtreibenden Arbeit selbst ernten, endlich ein bisschen das Leben genießen, frei von Angst und Scherereien, sagt George. Endlich viele viele Kaninchen streicheln, sagt Lennie, der friedfertigste Kraftprotz in dieser feindseligen Welt, geistig auf dem Stand eines Kindes.

Kein Führer und kein Rührer

George und Lennie, die Protagonisten in John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“, spielen Christian A. Koch und Antonio Lallo im Esslinger Schauspielhaus nicht als Führer und Rührer. Was an Lallos Darstellung berührt, ist anderes als die Sentimentalität fürs Minderbemittelte. Sein Lennie ist kein Behinderter, sondern ein verhinderter Optimist: ein Mann der naiv-ursprünglichen, auf die unschädlichste Weise erotischen Sehnsüchte; einer, der ans Gute glaubt, nur verwandeln ihm unerfüllter Wunsch und brutale Wirklichkeit die Welt vom Willen zur utopischen Vorstellung. Und deshalb trat er demütig, vielleicht sogar lebensklug die innere Emigration in die Dummheit seines mächtigen Leibs an. Darsteller Lallo stellt ungemein präzis Lennies Schutzreflexe scharf: Wenn er sich ertappt fühlt, weicht er mit verlegenen Augenbewegungen dem Blickkontakt aus. Wenn weibliche Anfechtung droht, zieht er sich eine Decke über den Kopf. Doch die dumme Macht schlägt zurück. Was Lennie – ganz harmlos – liebkost, überlebt seine Muskelkraft nicht. Kleintierleichen säumen seinen Weg, und bald auch die einer Frau. Seine Zärtlichkeit macht ihn zum Mörder ohne jede Absicht. Der Traum wird zum Alptraum, der Alptraum zur Tragödie.

George kann sie nicht verhindern. Christian A. Koch gibt mit aller Geradlinigkeit nicht einfach den Herrn in einer symbiotischen Beziehung, sondern das andere, nach außen gewandte Ich, den Pol der redlichen Fürsorge in jener tiefen Freundschaft, die nicht zuletzt durch gelegentliche Grobheiten erhalten wird. Aber er ist so abhängig von Lennie wie umgekehrt, und er wird von Lennie durchaus energisch gefordert: Immer wieder muss George die Privatliturgie der Beiden herunterbeten, wie ein Priester das Evangelium vom gelobten Land verkünden. Nicht der Liebe Gott, aber Beckett ist da nahe.

Der Regisseur Jürgen Esser hat Steinbecks eigene Dramatisierung seines 1937 erschienenen Romans mit einer unverstellten und klugen Direktheit inszeniert, die im naturalistischen Anschein das absurde Theater ahnen lässt. Freilich eine Absurdität der Wirklichkeit, damals in den USA der Großen Depression, deren Auswirkungen – namentlich das Wanderarbeiter-Elend – Steinbeck bestens bekannt waren. Zentrales Motiv ist die Einsamkeit, die Vereinzelung auch jener, die eigentlich verbunden sind. Der großkotzige, zuhälterhafte und pöbelnde Curley (Benjamin Janssen als Goldkettchenträger) – Sohn des Farm-Chefs (Thomas Müller-Brandes), der tatsächlich nur Verwalter ist – sucht ständig seine Frau, und sie sucht angeblich ihn, tatsächlich aber Kontakt (Nina Mohr spielt das Unglück vom Lande mit allen Registern zwischen Leidensfrau und Angriffslust). Sie finden sich so wenig wie irgendeine andere anteilnehmende Nähe.

Solche Absurdität wandelnder menschlicher Isolierstationen strahlt aufs ganze Landmalocher-Kollektiv aus: Von Solidarität keine Spur, jeder kämpft gegen jeden, allenfalls gibt’s einen Sympathiebonus für den überlegenen Maultiertreiber Slim (Ralph Hönnicke zeigt ihn angespannt und souverän zugleich). Und es gibt die Lockungen des Aufbruchs, der holden Illusion vom American Dream: Curleys Frau, allseits als „Flittchen“ beschimpft, will weg zum Film. Der gebrechliche, seinen Rausschmiss befürchtende Candy (Florian Stamm) wiederum und der als „Nigger“ diskriminierte Crooks (Ricardo Camillo), in der Not zum Bücherleser geworden („aber Bücher helfen nicht“) – sie klinken sich ein in Georges und Lennies Traum vom eigenen Land. Weil das so ist, platziert Esser die drei Ausgegrenzten unter den Ausgegrenzten gleich zu Beginn wie reglose Traumwachsfiguren auf Elisabeth Pedross’ zugerümpelter Bühnenbaracke: ein vielfach umgebautes Dauerprovisorium, ein Unort, der selbst eine Geschichte der Ausbeutung erzählt. Gespielt wird diese von einem durchweg fulminanten Ensemble, nicht zuletzt von Lothar Bobbe als martialisch-jovialem Alt-Rock’n’Roller Carlson mit dem Vietnam-Veteranen-Song „Born in the USA“ auf den Lippen und einem Stuhl unterm Hintern, wenn er draußen einer willkommenen Keilerei zuschaut. Mit dem Ghettoblaster mischt er die Bande zu einem raren Moment von tanzendem Frohsinn auf, mit der Knarre und mit heuchlerisch scheinhumaner Begründung verpasst er aber auch Candys altem, stinkendem Hund den Gnadenschuss. Die Szene wird sich wiederholen.

Tragödie schuldloser Schuld

Essers Regie braucht fürwahr keine aktualistischen Manöver für die doppelte Transparenz des Dramas: Die Sichtbarkeit auch heutiger Prekarisierung und Ausgrenzung ist offenkundig. Und Steinbecks literarische Formung zeigt ebenso Kontur: die Vorwegnahme des absurden Theaters, verschmolzen mit der klassischen Tragödie schuldloser Schuld. Die Katastrophe naht mit der glaubhaften Wende zum Besseren. Der Plan von der eigenen Farm rückt dank Candys Erspartem ein gehöriges Stück in die Wirklichkeit, und Curleys Frau versteckt für die Flucht nach Hollywood nur noch schnell den Koffer in der Scheune. Wo sie Lennie findet. Gesuchte Nähe trifft streichelnde Muskelkraft, die Begegnung endet tödlich. Was Steinbeck sodann wortreich ausführt, ist bei Esser wortlos klar – ein Blick zwischen Slim und George: Lennie droht Lynchjustiz oder Gummizelle. George führt den Kumpel an den Fluss, lässt ihn wie in einer biblischen Vision hinüberblicken ins Jenseits, ins gelobte Land. Es folgt der Gnadenschuss am Todesfluss. Mäuse und Menschen? Ach was. Menschen sind auch nur Tiere. Die Verhältnisse wollen’s so.

Weitere Vorstellungen: 13. und 19. Februar, 1., 16. und 28. März, 12. und 26. April, 25. Mai und 10. Juli.