Wolf Biermann und Manuel Soubeyrand bei ihrem Auftritt in Stuttgart. Foto: Sebastian Wenzel Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Bescheidenheit ist nicht gerade seine Zier. Auf die Frage „Haben Sie die Welt verändert?“ deutet Wolf Biermann mit großer Geste aufs Publikum und witzelt: „Der Gottesbeweis ist doch anwesend!“ Ob das als Koketterie oder Selbstironie zu deuten ist, bleibt in der Schwebe, wie vieles an diesem Sonntagvormittag. Redet er über weibliche Geschöpfe, so schmuggelt der Alte gerne Parenthesen wie „hatte keinen Busen“ oder „hatte fette Titten“ in seine Suaden - egal ob es sich um ein „zartes Mädchen“ handelt, dass vor FDJ-Funktionärinnen mutig dem Zwang zum Austritt aus der evangelischen Jugendorganisation widersteht, oder um eine vermeintliche Fehlbesetzung des Gretchens in einer „Faust“-Schulaufführung, in der Biermann den Mephisto gab. Der alte Wolf schwadronierte wild drauf los, als er im vollbesetzten Stuttgarter Hospitalhof zum Podiums-Interview gebeten wurde - anlässlich der Veröffentlichung seiner Memoiren „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ im vergangenen Jahr. Die Veranstaltung des Stuttgarter Literaturhauses leitete der alte Moderationshase Wieland Backes.

Biermann, Liedermacher und Lyriker, ist 80 geworden. Zeit für ein Resümmee. Ein Greis ist er noch lange nicht. Ein bisschen kindisch schon. Und großspurig. Aber nicht larmoyant. Dabei hat der Mann furchtbare Traumen erlebt. Sein Vater, Dagobert Biermann, jüdischer Herkunft und Widerstandskämpfer gegen die Nazis, wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Dem Feuersturm in Hamburg im selben Jahr entkam der sechseinhalbjährige Wolf nur knapp: Mutter Emma rettete ihn und sich durch einen Sprung in den Nordkanal.

Biermann machte einst Schlagzeilen noch und nöcher. Und seine Gedichtbände zählen zu den meistverkauften der Nachkriegsliteratur. Ein bewegtes, produktives Leben liegt hinter ihm. 1953, mit 17, siedelte der Sohn kommunistisch denkender Eltern von Hamburg freiwillig in die DDR über: „Ich wollte die Menschheit retten, den Kommunismus aufbauen, den Tod des Vaters rächen“, sagt er, jetzt mit deutlich ironischer Distanz. Wenn er nicht in die DDR gegangen wäre, wäre er nicht Biermann geworden. „Ich wäre in Hamburg geblieben und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verblödet.“

Er lernte im Arbeiter- und Bauernstaat schnell seine Lektionen. Wurde zum Regimekritiker mit großer Ausstrahlung. 1965: Auftritts- und Publikationsverbot. 1976: Die Ausbürgerung. Politisch ist es schon lange still um Biermann. Als Dichter und Publizist ist er weiter aktiv. Was eben auch seine Memoiren zeigen und sein neuester Gedichtband.

Im Hospitalhof stand ihm sein Ziehsohn Manuel Soubeyrand zur Seite, mit dessen Mutter Biermann in jungen Jahren liiert war. Soubeyrand - ab 2004 für zehn Jahre Intendant der WLB Esslingen und seit 2014 Intendant in Senftenberg - las ein paar Kapitel aus dieser Autobiographie: Von der letzten Begegnung mit seinem von der Gestapo inhaftierten Vater etwa: Aufgefordert von der Mutter, seinem Vater ein Ständchen zu bringen, sang der unwissende Kleine ein Nazi-Lied: „Hört ihr die Motoren singen: ‚Ran an den Feind! Bomben! Bomben! Bomben auf Engeland!“ , brüllt nun auch der alte Wolf im Hospitalhof. Der Vater habe verstehend gelächelt. Soubeyrand rezitiert sehr dramatisch: Vom Feuersturm in Hamburg, dem Sprung ins Wasser, inmitten versinkender Sterbender. Einer wie Biermann kann Geschichten ohne Punkt und Komma erzählen. Von einer Fünf in Mathe berichtet er, auf die die Mutter recht hart reagiert habe: „Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben?“

Das sei eine viel krassere als Martin Walsers Auschwitzkeule. Delikat die Geschichte um den Eklat um sein Gedicht „An die alten Genossen“, das der jungen Mann 1962 in der Ost-Berliner Akademie der Künste im Rahmen eines Gedichtwettbewerbs unter Leitung das DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin vorlas. Es endet mit: „Setzt Eurem Werk ein gutes Ende / Indem Ihr uns / Den neuen Anfang laßt.“ Das war mutig.

„Welche Nichtigkeiten sind wichtig, und welche Wichtigkeiten sind nichtig im Leben?“, fragt sich der alte Wolf heute. Und wo fühlte sich Biermann eigentlich wohler? Im Osten oder im Westen, fragt Backes. Unter dem Druck der Diktatur sei man trainiert, Belastungen standzuhalten. Freiheit tue weh, man müsse Verantwortung für sich selbst übernehmen, könne nicht für alles die Regierung verantwortlich machen. Und die Idioten seien auf beide Systeme gerecht verteilt gewesen. Sein Fazit: „Unvollkommene Demokratien sind besser als vollkommene Diktaturen.“ Dafür gibt es viel Applaus.