Stuttgarts Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling: „’Pique Dame’ ist ein fantastisches Stück mit wunderbarer Musik“. Foto: Marco Borggreve Quelle: Unbekannt

Stuttgart -In Peter Tschaikowskis 1890 uraufgeführter Oper „Pique Dame“ sind Motive aus Alexander Puschkins gleichnamiger, 1834 erschienener Erzählung in die Gegenwart des Komponisten übertragen. Im Interview erläutert Stuttgarts Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling das späte Glück seiner Entdeckung des Komponisten und einer doppelten Premiere - es ist seine erste Tschaikowski-Oper überhaupt.

Sie sind ein sehr vielseitiger Dirigent und insbesondere auch als Anwalt der Avantgarde hoch geschätzt. Mit dem Opernkomponisten Tschaikowski brachte man Sie bislang weniger in Verbindung. Woran lag das?

Cambreling:Tschaikowski war mir tatsächlich lange Zeit fremd geblieben. Das änderte sich erst so vor sieben, acht Jahren. Die letzten Jahre habe ich mich dann intensiver mit ihm, aber auch mit der russischen Literatur beschäftigt - mit Gogol, Dostojewski, Tolstoi und natürlich mit Puschkin. Und über dieser Lektüre habe ich auch einen tieferen Zugang zu Tschaikowski gefunden.

In Stuttgart hat man zuletzt verstärkt die russische Tradition entdeckt. Sie haben Tschaikowski-Sinfonien dirigiert, aber noch keine Oper von ihm.

Cambreling:Gerard Mortier hatte sehr lange versucht, mich zu überzeugen, Tschaikowskis „Eugen Onegin“ zu dirigieren - allerdings ohne Erfolg. So ist diese „Pique Dame“ tatsächlich meine erste Tschaikowski-Oper. Sie hier aufzuführen, war ein Vorschlag von mir, den ich schon vor drei oder vier Jahren gemacht habe. Es ist ein fantastisches Stück mit wunderbarer Musik. Es zu erarbeiten, war für mich eine echte Entdeckung. Ich bin sehr glücklich über diese Erfahrung und finde, es war unbedingt nötig, dieses Werk jetzt zu realisieren.

Was bewirkte Ihren Sinneswandel?

Cambreling: Ich habe persönlich lange Zeit gedacht, dieses Stück sei kitschig, hyperromantisch, sentimental. Nun, inzwischen bin ich ein bisschen älter geworden und muss bekennen: Ich habe einfach falsch gehört, falsch gelesen, falsch gespürt. Heute finde ich das Werk großartig und ich halte Tschaikowski für einen sehr guten Komponisten. Ich glaube wirklich, dass das ein großes Stück ist, welches man unbedingt kennenlernen und gehört haben muss.

Was macht Tschaikowskis Stärke als Komponist aus?

Cambreling: Tschaikowski war ein sehr talentierter Melodiker und ein sehr guter Techniker. Er hat ein effizientes System zu komponieren entwickelt und ein ausgeprägtes Gespür für große Melodien. Dabei kommt er meist ohne allzu große Intervalle aus, so dass diese Melodien vom Ambitus her nicht einmal allzu hohe Anforderungen an einen Sänger stellen, auch wenn natürlich seine Opern entsprechendes Stimm-Material erfordern. Aber diese Musik ist dennoch unglaublich intensiv, und vor allem macht sie die Gefühle der Protagonisten glaubhaft, sie ist auf faszinierende Weise authentisch in jeder Hinsicht.

Also nichts dran am Vorwurf Adornos und der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, dass Tschaikowski noch die schiere Verzweiflung in eine Schlagermelodie gepackt habe?

Cambreling:Adorno in Ehren, aber ich finde, dass an diesem Kitschvorwurf nichts dran ist. Wenn diese Musik kitschig wird, dann höchstens durch ihre Interpretation. Ich glaube, dass es auch vor allem diese Interpretationen mit allzu viel Pathos waren, die mich lange Zeit gestört haben. Aber als ich mich intensiver mit Tschaikowski beschäftigte, habe ich gemerkt: Diese Musik braucht das alles gar nicht, diesen künstlichen emotionalen Überschwang. Man findet in ihr vielmehr schon alles, was man braucht. Diese Musik ist alles andere als sentimental, der Schmerz, die Ekstase, das Leiden - sie sind absolut echt. Man muss hier also überhaupt nicht dick auftragen - und das möchte ich mit meiner Interpretation zeigen.

Tschaikowski hielt seine Oper „Pique Dame“, die er in wenigen Wochen komponierte, selbst für sein beste Schöpfung: Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen?

Cambreling: Nun, man muss bedenken, dass Tschaikowski diese Oper zunächst eigentlich nicht komponieren wollte. Aber es gab einen einfachen Grund, dass er es schließlich doch tat: Er brauchte Geld. Was dann am Ende herausgekommen ist, ist aus meiner Sicht jedenfalls sein Hauptwerk geworden. Aber es war ja nicht sein letztes Stück. Tschaikowski hat mit der „Iolanta“ noch eine Oper komponiert, und auch hier zeigt sich, wie effektvoll Tschaikowski die Kunst der Reduktion beherrschte, die wir schon in „Pique Dame“ spüren: zum Beispiel in der berührenden Szene im zweiten Akt, als wir eine gealterte Gräfin erleben, die früher einmal eine Künstlerin, vielleicht eine Kurtisane, ein ehemaliger Star war - und die nun vom Verblühen von Körper, Jugend und Schönheit singt: Das ist im Grunde sehr einfache Musik, die aber gerade in ihrer Schlichtheit die Zuhörer auf besondere Weise emotional zu berühren versteht.

Spiegelt sich im zwischen zwei Leidenschaften - für die Liebe und das Glücksspiel - zerrissenen Protagonisten German auch das Schicksal eines Komponisten, der ein Leben zwischen bürgerlicher Konventionalität und unterdrückter Homosexualität führte?

Cambreling: Ich glaube nicht, dass man zu viel Autobiographisches in die Partitur hineininterpretieren sollte. Jeder Künstler, ob Maler, Literat oder Musiker, bringt sich natürlich immer irgendwie mit seiner Person und seinem Leben in sein Werk ein. Aber was wir auf jeden Fall beobachten können, ist, wie tief sich Tschaikowski in die Figur des German einfühlt, wie er seine Zerrissenheit, seine Gebrochenheit förmlich mit leidet. Er zeigt uns da im Grunde genommen eine sehr moderne Figur.

Eine in der Liebe und im Spiel gescheiterte, eine tragische Figur?

Cambreling:Das würde ich so nicht sagen. Am Anfang und ganz am Ende steht nichts als - die reine Liebe. Zunächst in Form der jungen Lisa, für die seine große Leidenschaft entbrennt, und ganz zum Schluss, als er dem Tod entgegensieht und seine letzten Worte dieser Liebe zu seinem „Engel“ gehören. Dazwischen kommt - entfacht durch die Begegnung mit Lisas Großmutter, der Gräfin - seine andere Leidenschaft ins Spiel: Karten. Diese Dimension eröffnet ihm neue Möglichkeiten für sein Leben und seine erhoffte Zukunft mit Lisa. Das eigentliche Drama ist nicht, dass ihm jetzt einfach Geld das Wichtigste im Leben wäre, sondern dass er die Kontrolle darüber verliert. Dieser German erinnert mich an den Jim Stark aus dem Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean. Beides sind Typen, die ihre Leidenschaft nicht kontrollieren können, und German wird darüber krank, ja man kann fast sagen schizophren. Tschaikowski wiederum hat diesen Umschlag mit seiner Musik kongenial beglaubigt. Am Anfang des dritten Aktes macht er diesen inneren Kampf Germans, diese Aufspaltung der Persönlichkeit mit anatomischer Präzision deutlich. Hier entfaltet die Musik Tschaikowskis geradezu tiefenpsychologische Qualitäten.

Das Interview führte Thomas Krazeisen.

Die Premiere beginnt am morgigen Sonntag um 18 Uhr Im Stuttgarter Opernhaus. Restkarten sind noch über www.oper-stuttgart.de, Kartentelefon Tel. 0711- 202090 und an der Abendkasse erhältlich.