Foto: Chris Van der Burght - Chris Van der Burght

Bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen gastierte mit Alain Platels „Requiem pour L.“ eine kontroverse Deutung des Mozart-Requiems

LudwigsburgDer Tod, das letzte Tabu? Der belgische Theatermacher und Choreograf Alain Platel zeigt Bilder einer sterbenden Frau und lässt dazu fröhliche, laute Musiker aus Afrika mit Akkordeon oder Trommeln das Mozart-Requiem interpretieren. L., die Frau, deren Ableben wir auf einer großen Leinwand im Hintergrund sehen, hat der Veröffentlichung des Films zugestimmt, deshalb muss uns das Eindringen in diesen letzten, geheimsten Moment ihres Lebens nicht peinlich berühren – stark ergreifend ist es natürlich doch, ihr müdes, gar nicht so altes Gesicht auf einem Kopfkissen ruhen und völlig erschöpft auf den Tod warten zu sehen. Manchmal wird sie von Händen zärtlich gestreichelt, ein Teddybär liegt in ihrem Arm, Familie und Freunde sind bei ihr.

Unter der Leinwand liegt ein Feld aus zahlreichen Sarkophagen in abstraktem Schwarz, das an die unterschiedlich hohen Stelen des Holocaust-Denkmals in Berlin erinnert (und leider für alle, die „Tanz der Vampire“ kennen, eins zu eins an die Friedhofsszene des Musicals). 14 Musiker ziehen langsam ein und spielen dort Mozarts Requiem in einer Bearbeitung von Fabrizio Cassol, drei Opernsänger alternieren mit drei rauen, starken afrikanischen Naturstimmen, begleitet von Akkordeon, E-Gitarren, Euphonium, einem Schlagzeug. Wohl hören wir die lateinischen Texte des Requiems und Mozart-Motive, aber sie wenden sich nach wenigen Minuten ins Jazzige, in fröhliche karibische Rhythmen. Dafür mag die elektrische Verstärkung in Ordnung gehen, aber auch die Opernstimmen knallen beim „Benedictus“ so laut ins Ohr, dass jede Erinnerung an Mozart untergeht.

Auf knapp zwei Stunden wird der Film durch Zeitlupe gedehnt, die Musiker sitzen auf den Gräbern, manchmal hat Platel eine kleine Klatsch-Choreografie für sie arrangiert oder sie swingen auf den Stelen. Es ist eine Jamsession auf dem Friedhof. Trotz einiger Momente, die ruhiger und nachdenklicher sind – das hohle, leere Atmen ins riesige Blechblasinstrument etwa, das sich zu einem unheimlichen Donnerruf aus der Totenwelt verstärkt – wollen Musik und Film im Kopf einfach nicht zusammengehen, weder durch Synthese noch durch Konfrontation. Zu oft fühlt es sich an, als könnte all der Lärm die unendlich müde Sterbende nur stören. Das Feiern auf den Gräbern wirkt aufgesetzt und – ja, fast sogar belehrend: Was trauert ihr denn, das Leben ist bunt und laut! Aber warum und wozu muss man die leise, begleitende Sterbenskultur der Europäer gegen eine afrikanische Feier des Todes setzen, warum das lange, matte Warten auf Erlösung vom Schmerz zum Happening machen?

Weil auf der Bühne nichts geschieht, versucht man irgendwann, sich die Geschichte der L. zu erfinden: Woran stirbt sie wohl? Wem gehören die vorsichtigen Hände, die manchmal tasten, ob ihr Puls noch schlägt? Warum benetzt ihr niemand die trockenen Lippen? Ja, am Ende haben wir zwei Stunden intensiv übers Sterben nachgedacht. Und wünschen uns danach nichts als Stille für den eigenen Tod. Vielleicht das Mozart-Requiem. Das echte.

„Requiem pour L.“ gastiert ab 31. Oktober nochmals für vier Abende im Stuttgarter Staatstheater – dort läuft es im Opernprogramm, in Ludwigsburg hübschte das Werk fälschlicherweise die unter Intendant Thomas Wördehoff endlos darbende Tanzsparte auf. Platels Stück ist ein Konzert mit Film, nicht mehr und nicht weniger. Und ein arg langes dazu.

Nächstes Tanzgastspiel in Ludwigsburg: „Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten“ von Anne Teresa De Keersmaeker am 12. Juli.

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