Angst frisst Liebe auf: Nathalie Imboden als Luise (vorne), Felix Jeiter als Ferdinand und Elif Veyisoglu als Lady Milford. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Die Regisseurin Christine Gnann hat Schillers „Kabale und Liebe“ zum Jubiläum der Esslinger Landesbühne in die Gegenwart gerückt: Aus dem Feudalstaat wird ein Firmenimperium, aus dem Präsidenten und seinem rebellischen Sohn ein CEO und ein karriereschädigender Sprössling, aus der Inszenierung eine stimmige Aktualisierung.

EsslingenSupercool, die beiden, der Alte wie der Junge. Der Alte: Findet’s geil, wie der Sohnemann die Luise Millerin flachlegt. Der Junge: Von wegen flachlegen. Das ist ernst. Das ist Liebe. Die wahre, nicht die Ware. Da wird er dem alten Drecksack von Vater gehörig Bescheid stoßen, auch wenn der CEO von irgend so einer Arschloch AG ist.

So ungefähr tickt nicht nur bei der Regisseurin Christine Gnann, sondern bei Friedrich Schiller das Stück namens „Kabale und Liebe“. Nur klingt es anders: stürmend und drängend im schäumenden Jargon, furiose rhetorische Lanzen reitend gegen Feudalstaat und -gesellschaft, aufschreiend gegen Unrecht, Hierarchie und Gewalt, die sich am Ruin des ausblutenden Volkes mästen. Es klingt aber auch zagend und bange, beklommen und demütig in der kritischen Zeichnung des bürgerlichen Milieus und der verinnerlichten Zwänge seiner Moralvorstellungen, ohne die es die Tragödie nicht gäbe. Diese jugendlich attackierende, zugleich präzise ins Innenleben der Figuren dringende Sprache lässt Gnann intakt. Und das ist gut so. Denn Schillers geschliffene Pointierungen, seine effektvollen Zuspitzungen wirken wie ein Brennglas, das – einem Brecht’schen Verfremdungseffekt ähnlich – gerade aus der historischen Distanz die Anatomie der Macht durchleuchtet: jene der (äußeren) Herrschaft, der (inneren) Fremdbestimmung, der manipulierenden Kombination beider.

Feudalstaat? Firmenimperium!

Gnann hat an der Esslinger Landesbühne (WLB) „Kabale und Liebe“ aktualisiert im besten Sinne des Wortes. Weder muss sie modisch-alberne Etikette aufkleben, noch das Stück zerbrechen. Dass die dargestellten Machtstrukturen, die die Menschen noch im Privatesten und Intimsten beherrschen und zerstören, bis heute fortdauern: Diese Ausgangsbeobachtung bewährt sich in einem Vergegenwärtigungskunststück. Und damit zollt die Regisseurin zugleich dem Jubiläumsanlass den gebührendsten Tribut: Ihre Inszenierung desselben Stücks, mit dem vor genau 100 Jahren die Schwäbische Volksbühne als WLB-Vorgängerin antrat, feiert ein Theater, das es sich seit jeher zur Aufgabe macht, seine Stoffe nahezubringen: der Gegenwart und dem Publikum; kenntlich, aber ohne Anbiederung. In Gnanns Schiller-Regie geht das so: Aus dem Feudalstaat wird, was ihm heute entspricht – ein Unternehmensimperium mit ungreifbar-unsichtbarem Kapitalinhaber (dem „Herzog“ – einem Zeichen, keinem Akteur der Macht); mit allmächtigem, aber nicht ungefährdetem Vorstandsvorsitzenden (schließlich hat er kriminellen Dreck am Stecken, der „Präsident“); mit einer Start-up-Abteilung, geleitet vom skrupellosen Jung-Karrieristen Wurm. Dazu ein Geldsprössling vom Typus vertrottelt-dekadenter Firmenerbe, den es vom operativen Geschäft längst zu Wodka, Koks und DJ-Getue zog (der „Hofmarschall von Kalb“).

Natürlich steht oder fällt dieses Personal-Setting mit darstellerischer Glaubwürdigkeit oder Klischeehaftigkeit. Bei den exzellenten WLB-Akteuren fällt (und fehlt) nichts: Ralph Hönicke führt den Hofmarschall als Partylöwen im Satin-Outfit vor und zeichnet ihm den Flattermann auf den Leib, wenn er in Bedrängnis gerät – keine bloße Karikatur, sondern einer, der Instagram-Posing mit der Wirklichkeit verwechselt und auf die dämlich grinsende Fresse fliegt, wenn ihn die Wirklichkeit einholt. Marcus Michalski gibt den Aufsteiger Wurm mit metrosexuellem Dutt am Hinterkopf, bezeichnendem Schlangen-Tattoo an Hals und Unterarm und smartem Senkrechtstarter-Anzug als Virtuosen des Zynismus. Martin Theuers grandios entlarvter Präsident – klein von Statur, bösartig von Natur – macht auf jovialen Manager, dem aber alsbald Miene und Blick zu eiskalter Autorität erstarren. Womit er Sohn Ferdinand freilich nicht beikommt. Da muss der teuflisch kluge Menschenkenner Wurm ran. Sein psychologisch durchtriebener neuer „Führungsstil“ sticht den Poltergeist des alten Chefs locker aus.

Dieser tänzelt beschwingt ob der neuen, erfolgsträchtigen Methoden, aber er lehnt schon auch mal abgewandt an der Reling auf der Kommandobrücke von Judith Philipps abstrahierendem, symbolhaft bespielten Hierarchie-Bühnenbild: Da kündet ein Kronleuchter von der feudal-kapitalen Machtkontinuität, da führen Treppen links und eine schiefe Ebene rechts nach oben. Man kann aufsteigen, hochkriechen – oder abrutschen. Ferdinand, der Rebell aus besserem Hause, klettert hoch, solange er sich stark fühlt. Stark im Vater-Sohn-Clinch, ödipal aufgeladen, versteht sich. Man folgt gebannt. Und die Liebe? Schon das Stück weckt den Verdacht, dass es Ferdinand – bei aller subjektiven Aufrichtigkeit seiner Gefühle – nicht um Luise geht, sondern um sich selbst. Dass der Vater gegen eine ernste Liaison Ferdinands mit der kleinbürgerlichen Luise intrigiert, dass er ihn im Karriere- und Firmeninteresse lieber verkuppeln will mit der abgelegten Mätresse des Herzogs (Elif Veyisoglu zeigt den ganzen Zwiespalt dieser Lady Milford, die hier mit einem Putzroboter zwanghaft ihr Leben säubert): Das alles ist nur Anlass für ein Ringen um Ferdinands eigenes Ego, das sich an die Stelle des Vaters setzt – und Darsteller Felix Jeiter zeigt sehr genau, wie Liebe umkippt in Besitzanspruch, in Tyrannei gegenüber Luise und ihrer familiären Bindung, in die autoritär-absolutistischen Muster des Vaters. Wenn Ferdinand markig vom „Riesenwerk meiner Liebe“ schwadroniert, klingt’s weniger nach Liebe als – im Kontext von Gnanns Inszenierung – nach dem Hochmut eines die eigene Furcht übertönenden Start-up-Gründers. Es ist ein Start-up in den Tod.

Sphäre der Angst

Luise weiß das von Anfang an, und Nathalie Imboden spielt diese wissende, ahnende Klugheit subtil, aber entschieden aus (warum sie ins läppisches Kostüm des Girlie-Püppchen gesteckt wird, erschließt sich freilich nicht). Mit Kopfhörern auf den Ohren tanzt sie die innere Spannung aus sich heraus: den Konflikt zwischen der Liebe zu Ferdinand und einer konträren, da liebevollen Vater-Beziehung, die Sorge um Ich-Verlust und die Zerstörung ihrer Familie. Dieses kleinbürgerliche Milieu ist im Angesicht der Macht und des mächtigen, verinnerlichten Wertekanons eine Sphäre der Angst, wo Vater Miller (Antonio Lallo) allenfalls flennend gegen den Terror des Präsidenten aufbegehrt und sich in die Rituale des Alltags flüchtet: Den Gelben Sack schleppt er noch beim tödlichen Finale zum Mülleimer – ein sinnloser Entsorgungszwang, nicht anders als der Putzroboter der Lady Milford. Aber es ist auch eine Zone der Geborgenheit, wo sich Miller und Gattin (Kristin Göpfert) nach langen Ehejahren ihre gegenseitige Leidenschaft bewahrt haben: ein Kontrastraum zur tödlichen Liebe, die zurückfällt ins Machtsystem, gegen das sie rebelliert.

Die nächsten Vorstellungen: 26. September, 4. und 15. Oktober, 9., 13. und 22. November, 6. Dezember, 25. Januar.