Von Popart über Ku Klux Klan bis zu indischer Meditation: Das Bühnenbild im Alten Schauspielhaus versetzen direkt in die damalige Zeit. Foto: Schauspielbühnen/Martin Sigmund - Schauspielbühnen/Martin Sigmund

Heute sind die Tabus, die die 68er bekämpften, gefallen. Dennoch kommt die „Hair“-Inszenierung im Alten Schauspielhaus Stuttgart zur rechten Zeit, findet Angela Reinhardt.

StuttgartWas ist aus den 68ern geworden, hat die Flower-Power-Bewegung wirklich die Welt verändert? Ein halbes Jahrhundert Jahre ist das Rockmusical „Hair“ jetzt alt – wie aus den Hippies Althippies geworden sind, das kann man noch bis Ende Januar in einer eher kleinformatigen, aber toll besetzten Aufführung im Alten Schauspielhaus besichtigen. Dort tappt Regisseur Klaus Seiffert nicht in die Falle, das Stück im Retro-Stil als große, bunte Hippie-Party zum Abtanzen zu inszenieren, sondern er stellt die damaligen Inhalte heraus. Die Patchwork-artig zusammengesetzte Revue aus Protestsongs, ironisch-anklagenden Szenen und Handlungsfetzen um eine Kommune junger Leute wird somit fast zum historischen Dokument.

Urfassung mit deutschen Texten

Gespielt wird die Urfassung mit deutschen Texten, was in Songs wie „Haschisch“ oder „Sodomie“ durchaus erstaunliche Inhalte zutage fördert – endlich versteht man die provokanten Zeilen mal richtig. Obwohl es seitdem genügend Protestbewegungen und wütende Generationen gab, lässt sich das Musical im Grunde nicht in die Jetztzeit holen – Regisseur Seiffert inszeniert es als Rückblick, zeigt am Anfang ganz kurz einen grauhaarigen Hippie auf dem Soldatenfriedhof von Arlington, der sein Amulett an ein Grabkreuz hängt. Und zack! sind wir mittendrin im Leben des „Tribe“, des Stammes, der Hippie-Kommune, haben Teil am Leben von Berger, Claude, Sheila und wie sie alle heißen. Wer den Film von Milos Forman aus dem Jahr 1979 kennt, wird hier eine durchgehende Handlung vermissen, revuemäßig reiht sich ein kurzer, knackiger Song an den nächsten. Dazwischen verkleiden sich die Hippies als ihre eigenen Eltern und klagen in grellen oder parodistischen Theaterszenen die damalige Bigotterie und das Establishment an.

Freie Liebe, Rauschgift und Nackte: Heute sind fast sämtliche Tabus von damals gefallen, selbst in den USA gibt es keinen Wehrdienst mehr, der hier in Zeiten des Vietnamkriegs ein zentrales Thema ist. Wogegen soll „Hair“ heute noch anrennen? Haartechnisch haben wir die Farb- und Stachelexzesse der Punker und die Vokuhila-Mode durch, da wird man bei Anton Hofreiters Frisur doch fast schon nostalgisch. „Hair“ ist inzwischen arg weit weg und man muss einer jungen Generation vieles erklären – was ist ein „Be-In“, wer waren Lyndon B. Johnson oder Timothy Leary, nicht mal Krishna-Jünger sieht man heute mehr in den Straßen. Das informative Programmheft spannt ein ganzes Panorama der 1960er Jahre auf, auch die Projektionen auf der Bühne helfen weiter – der psychedelisch-bunte Rundhorizont von Ausstatterin Barbara Krott wirkt über dem schönen grünen Boden ein wenig zu ordentlich für ein Hippie-Musical, aber die vielen, vielen Bilder versetzen direkt in die damalige Zeit, von Popart über Ku Klux Klan bis zu indischer Meditation und unserem blauen Planeten. Heftiger wird es in den LSD-Trips des zweiten Aktes, als Claude von Vietnam halluziniert, da wallt grünes Giftgas, Vietcongs schießen, Soldaten sterben.

Junges Ensemble

In choreografische Schwingungen hat Mario Mariano die 14 Ensemblemitglieder versetzt, anfangs noch ein bisschen zu showtanzmäßig, später mit Yoga-Haltung oder meditativen Elementen sehr fein auf den Inhalt abgestimmt. Der begnadete Theatermusiker Clemens Rynkowski, den Intendant Axel Preuß aus Karlsruhe mitgebracht hat, dirigiert im kleinen Graben eine achtköpfige Rockband und trägt mit dem Theremin psychedelisch-jaulende oder überirdisch schöne Klänge bei. Das Ensemble ist jung und singt fantastisch – allen voran Dennis Weißert als aufsässiger Berger und Fin Holzwart als zögernder, zerrissener Claude. Amani Robinson hebt in „Hare Krishna“ mit fernöstlichen Melismen ab, Tim Müller zwitschert in der Travestie-Rolle einer konservativen Reporterin „Entschuldigen Sie, sind Sie ein Hippie?“, Lukas Haiser zeigt die fröhlich-flippige Seite der Blumenkinder, Julia Waldmayer, Anthony Curtis Kirby, Katrin Merkl, Friederike Kury und alle anderen tragen mit ihren starken Stimmen immer wieder neue Songs bei.

„Let the Sunshine In“ singen sie dann doch in Englisch, wenn die Hippies am Schluss im Schnee frieren und den gefallenen Claude beklagen. Der Song ist immer noch eine starke, bittere Anklage, zeugt nach wie vor von der Hoffnung einer ganzen Generation auf einen neuen Aufbruch. Verglichen mit den damaligen Vorurteilen ist die Gesellschaft wesentlich offener und toleranter geworden – trotzdem kommt „Hair“ genau zur richtigen Zeit, hat man doch das Gefühl, dass wir uns gerade wieder mit voller Kraft zurückentwickeln.

Bis zum 19. Januar täglich außer sonntags.

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