Viktor Schoner will auch ein Publikum anlocken, das bisher keinen Draht zum Musiktheater hat. Foto: Wilfried Hösl Quelle: Unbekannt

Stuttgart - Ihm eilt der Ruf des stillen, aber äußerst fähigen Theatermanagers voraus: Viktor Schoner, zuletzt Künstlerischer Betriebsdirektor der Bayerischen Staatsoper in München, ist ab dem Sommer 2018 Intendant der Stuttgarter Oper und somit Nachfolger Jossi Wielers. Ein Schritt von der zweiten in die erste Reihe, den der 43-Jährige mit Respekt und Selbstbewusstsein angeht. Er schätzt die Stuttgarter Oper als Laboratorium eines zeitgenössischen, gesellschaftlich relevanten Musiktheaters - und er will Neues wagen. Geprägt hat Viktor Schoner der langjährige gemeinsame Weg mit dem 2014 gestorbenen Intendanten Gerard Mortier, einem großen Vordenker und Ermöglicher modernen Operntheaters. Mit ihm arbeitete Schoner bei den Salzburger Festspielen, der Ruhr-Triennale und an der Pariser Oper zusammen.

Welche Ihrer bisherigen Stationen war für Sie die wichtigste?

Schoner:Ich bin kein Freund von Rankings. Von jeder Station habe ich etwas mitgenommen. Aber wenn Sie mich schon so fragen: Künstlerisch war vielleicht die Ruhr-Triennale am wichtigsten. Als Versuch, Kunst und Institution zusammenzubringen, war es München.

Kann man die Kunst und Institution im Fall der Oper trennen?

Schoner: Nein, diese Kunstform gibt und gab es nicht ohne Institution, sie setzt einen aufwendigen Betrieb voraus - und das ist nicht abwertend gemeint, sondern liegt in der Natur des Musiktheaters. Betrieb ist gemeint im Sinne von handwerklichem Metier bis hin zu den Gewerken, wo beinahe ausgestorbene Berufe wie Hutmacher oder Kostümfärber aus künstlerischer Notwendigkeit fortbestehen. Das ist ein Beispiel, wie sich Kunst und Betrieb gegenseitig brauchen. Es gibt freilich auch Opernhäuser, die um sich selbst als institutionalisierten Traditionswert kreisen. Nur an wenigen Häusern hat man so verinnerlicht wie in Stuttgart, dass die Institution sich ausschließlich durch Kunst legitimiert.

Kommen wir noch einmal auf Ihren Werdegang zurück. Auch wenn Sie keine Rankings mögen: Welche Persönlichkeiten haben Sie am meisten geprägt?

Schoner: Zwei Meister - und ich nenne sie bewusst so: Gerard Mortier, mit dem ich bei den Salzburger Festspielen und dann bei der Ruhr-Triennale zusammengearbeitet habe, und dann der Münchner Opernintendant Nikolaus Bachler. Beide haben sich geschätzt, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Gerade in ihrer Gegensätzlichkeit haben sie mich geprägt. Unter den Regisseuren war für mich die Arbeit etwa mit Peter Sellars, Alain Platel, Christoph Marthaler oder Arpad Schilling besonders wichtig.

Ist das ein Regie-Tableau auch für Ihre Stuttgarter Intendanz?

Schoner: Über konkrete Namen wollten wir noch nicht reden.

Kein kleiner Hinweis, wohin der Stuttgarter Operntanker unter Käpt’n Schoner steuert?

Schoner: Wir haben hier herausragende Inszenierungen von Achim Freyer, Andrea Breth, Peter Konwitschny, Kirill Serebrennikov und natürlich Jossi Wieler im Repertoire. Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Diesen Schatz werden wir pflegen, und darauf kann man aufbauen.

Aufbauen ohne die genannten Größen?

Schoner: Natürlich werde ich mit meinem Team auch eigene Akzente setzen. Es wird neue Regie-Namen geben: bekannte Regisseure, die aber in Stuttgart noch nie Oper gemacht haben, und weniger bekannte, die aber in Europa bereits eine wichtige Rolle spielen.

Sie wollen neue Türen öffnen, statt mit den bewährten Meisterregisseuren eine Qualitätsgarantie gleich mit zu engagieren?

Schoner: Breth, Wieler, Konwitschny - das sind in der Tat Meister. Das Tolle ist: Die Basis, die sie in Stuttgart gelegt haben, gibt uns die Möglichkeit, neue Wege zu gehen. Wo wir landen, weiß ich nicht. Aber es wäre der größte Fehler, nicht mutig zu sein.

Als neuen Generalmusikdirektor bringen Sie Cornelius Meister mit, einen Dirigenten der jüngeren Generation, der als gediegener Vertreter des Kernrepertoires gilt.

Schoner:Ja, das sagt man so. Aber schauen Sie sich an, was Meister alles dirigiert: in Hamburg bald Stockhausens „Gruppen“, an der Mailänder Scala 2015 die Uraufführung von Giorgio Battistellis „CO²“ und im Januar nächsten Jahres die „Fledermaus“, übrigens als Mailänder Erstaufführung. In Zürich hat er mit dem Originalklang-Ensemble „La Scintilla“ die „Zauberflöte“ erarbeitet. Cornelius Meister begeistert sich fürs Kernrepertoire, aber er beschränkt sich nicht darauf.

Wird es mit Meister eine solche Differenzierung der Aufführungspraxis auch in Stuttgart geben - Altes oder ganz Neues mit Spezialensembles?

Schoner:Nein. Wir haben mit dem Staatsorchester ein hoch qualifiziertes, neugieriges Kollektiv, das nicht nur auf den Kanon von „Figaro“ bis „Wozzeck“ beschränkt ist. Die Zeit der Scheuklappen ist längst vorbei, und das gilt auch für den hervorragenden Staatsopernchor. So ambitioniert wie für die Avantgarde engagiert man sich hier für eine historisch informierte Interpretation alter Musik. Spezialisierte Ensembles für Barockes oder für Neues zu holen, wie dies in den Niederlanden oder in Frankreich üblich ist, würde den Ensemblegedanken sprengen. Und der ist die Stärke des Stuttgarter Hauses.

In welche Richtung möchten Sie das Repertoire öffnen?

Schoner:Stuttgart hat ein reiches Repertoire, aber es gibt doch einiges, das eine ganze Weile hier nicht vorkam. Werke von Hans Werner Henze interessieren mich, ebenso Anknüpfungen an die amerikanische Minimal Music der 80er-Jahre, die damals in Stuttgart mit der Trilogie von Philip Glass Furore machte.

Sie finden in Stuttgart ein kundiges und interessiertes Publikum vor, das in einer Kathedrale avancierten Opernregietheaters gern - ministriert, hätte ich fast gesagt. Aber zumindest die Hochämter der Stücke-Neudeutungen gern mitzelebriert. Muss sich dieses Publikum trotzdem weiterentwickeln?

Schoner: Mir gefällt das Wort „ministrieren“ in diesem Zusammenhang. Vielleicht müssen wir Formen entwickeln, die die frontale theatralische Bespielung aufbrechen. Das Stuttgarter Publikum ist großartig in seiner Aufgeschlossenheit und Neugierde. Aber die weitere Entwicklung des Publikums ist für die Oper essenziell. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten verändert, und das bildet sich in unserer Publikumsstruktur noch nicht ausreichend ab. Beispielsweise hat Stuttgart einen hohen Migrantenanteil: Leute, die vor 40 Jahren Autos zusammengeschraubt haben, die sie heute selbst fahren. Sie sind ein Teil der Gesellschaft geworden. Oder die Digitalisierung: Längst sind nicht mehr nur die Jungen online, sondern immer mehr Menschen bis ins hohe Alter. Wir müssen wach sein für solche Veränderungen, wenn wir auch ein künftiges und ein neues Publikum für die Oper interessieren wollen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Schoner:Indem wir gezielter auch auf Gruppen zugehen, die bisher keinen Draht zum Musiktheater haben. Die Junge Oper soll deshalb ausgebaut werden. Zusammen mit Elena Tzavara, die Leiterin bleibt, denken wir über eine Reform des 20 Jahre alten Erfolgsmodells nach. Es soll künftig nicht nur auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet sein, sondern auch auf ältere und neue Zielgruppen. Und wir müssen uns mit der Frage beschäftigen: Wenn wir die Leute mit 30 verlieren, weil sie dann beruflich und familiär vielleicht anderes zu tun haben, als in die Oper zu gehen - wie kriegen wir sie mit 50 wieder? Natürlich ist das leichter, wenn sie bereits in jungen Jahren für die Oper begeistert wurden.

Haben junge Zuschauer nicht einen furchtbar konservativen Geschmack - im Unterschied zu den erfahrenen alten Publikumshasen?

Schoner: Ich würde das nicht so werten. Man darf nicht von oben herab sein. Es beginnt dann schnell ins Peinliche abzudriften, wenn man genau zu wissen glaubt, was Jugendliche wollen und sich doch nur anbiedert. Ich will nicht die Ansprüche der Werke und ihrer Deutungen reduzieren. Einfache Antworten haben wir heute von anderer Seite schon genug.

Glauben Sie, dass das Interim im Paketpostamt während der Sanierungsphase sogenannte Schwellenängste senken und neue Publikumsgruppen anlocken könnte?

Schoner: Ja. Ich habe das bei der Ruhr-Triennale erfahren. Das zieht neues Publikum an. Ich freue mich aber auch, dass wir vor der Sanierung noch fünf Jahre im Opernhaus arbeiten können. Und ich hoffe, dass es uns gelingt, durch ein gutes Programm das Stammpublikum ins Interimsquartier mitzunehmen.

Erwarten Sie, dass die Räume im Paketpostamt künstlerische Experimente erleichtern?

Schoner:Die Untersuchungen beginnen jetzt erst. Aber ich bin zuversichtlich, dass diese Räume künstlerische Chancen bieten.

Sie sind im August mit Ihrer Familie nach Stuttgart gezogen. Sind Sie auch im übertragenen Sinne angekommen, oder fremdeln Sie mit der Stadt, wie Ihr Schauspielkollege Armin Petras?

Schoner:Ich fremdle überhaupt nicht. Abgesehen von der wirklich schwierigen Wohnungssuche sind wir hier gut angekommen. Stuttgart ist eine aufregende Kulturstadt, auch wenn das nicht groß herausgeschrien wird. Die Menschen hier sind sehr offen, herzlich und interessiert. Ich weiß, von was ich rede, ich bin schon ein paar Mal umgezogen zwischen New York, Paris, München und jetzt Stuttgart.

Das klingt wie ein Witz, bei dem der normale Stuttgarter schamrot wird.

Schoner: Das braucht er nicht. Die New Yorker Opernszene schmiert ab gegen Stuttgart.

Das Interview führte Martin Mezger.

Zur Person

Viktor Schoner, 1974 geboren, ist in Aschaffenburg aufgewachsen. Er studierte in Berlin Musik (Bratsche) und Musikwissenschaft. Von 1999 bis 2001 setzte er seine Studien in New York fort. Im besten Sinne folgenreich war seine Begegnung mit dem großen Theatermanager und Opernintendanten Gerard Mortier. Er holte ihn 2001 als persönlichen Referenten zu den Salzburger Festspielen, die Mortier seit 1991 und in der Saison 2001 zum letzten Mal leitete.

Zusammen mit Mortier wechselte Schoner 2002 zur ersten Ruhr-Triennale und betreute dort innovative Musiktheater-Projekte mit Regisseuren wie Robert Wilson, Christoph Marthaler, Alain Platel, Peter Sellars, Emir Kusturica oder Johan Simons, mit der Theatergruppe La Fura dels Baus oder dem Video-Künstler Bill Viola.

Schoner blieb auch nach dem Ende des ersten Ruhrtriennale-Zyklus Weggefährte Mortiers. Ihm folgte er 2004 an die Pariser Oper, die Mortier bis 2009 leitete. Schoner war in Paris Direktor der künstlerischen Koordination, 2008 ging er an die Bayerische Staatsoper München als Künstlerischer Betriebsdirektor und Stellvertreter des Intendanten Nikolaus Bachler.

Im vergangenen Jahr wurde Schoner zum künftigen Intendanten der Stuttgarter Oper gewählt. Er ist Nachfolger von Jossi Wieler, der seinen im Sommer 2018 endenden Vertrag nicht verlängert hat.

Viktor Schoner ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit August dieses Jahres lebt er mit seiner Familie in Stuttgart.