„Für uns eine ideale Lösung“: die Doppelspitze mit Friedrich Schirmer (rechts) und Marcus Grube. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Interview mit Friedrich Schirmer und Marcus Grube: Das künftige Intendanten-Duo der Esslinger Landesbühne (WLB) erläutert den Sinn der Tandemlösung, deutet den Publikumserfolg der WLB und bekennt sich zu seinem Theater-Credo.

EsslingenFriedrich Schirmer (67) ist seit 2014 Intendant der Esslinger Landesbühne (WLB), die er bereits von 1985 bis 1989 geleitet hatte. Marcus Grube (45) ist ebenfalls seit 2014 sein Stellvertreter und Chefdramaturg. Ab September 2019 leiten die beiden als Doppelspitze die Bühne. Am Mittwoch stimmte der WLB-Vorstand diesem Vorschlag Schirmers zu und verlängerte zugleich den Vertrag der beiden bis Sommer 2024. Im Gespräch mit unserer Zeitung erläutern Schirmer und Grube den Sinn der Tandemlösung, deuten den Publikumserfolg der WLB und bekennen sich zu ihrem Theater-Credo.

Herr Schirmer, Herr Grube, bedeutet Doppelspitze eine andere Struktur mit gleichem Inhalt? Oder ändert sich etwas?
Grube: Grundlegend wird sich nichts ändern. Wir vollziehen damit nur, was wir seit vier Jahren praktizieren.

Schirmer: Es war mein Wunsch, dass das auch nach außen sichtbar wird. Mit dem Vorschlag habe ich zwar einige überrascht, aber eine Vertragsverlängerung ohne dieses Ensemble und ohne Marcus Grube habe ich mir nicht vorstellen können – und ich wollte ihn dann auch angemessen positionieren.

Was passiert, wenn es zwischen Ihnen doch mal zum Konflikt kommt?
Schirmer: Die Frage hat sich der Rechtsträger der WLB auch gestellt. Es gibt eine klare Regelung: Gegenüber Verwaltungsdirektorin Vera Antes, die ja auch zur Leitung gehört, haben wir gemeinsam nur eine Stimme. Das heißt, im Konfliktfall kann sie moderierend eingreifen. Aber: Marcus Grube und ich haben bisher alles einvernehmlich geregelt, und das wird auch künftig so bleiben.

Grube: Unsere beiden Dickschädel sind weicher, als man denkt – zumindest im Gespräch unter vier Augen. Es ist zwar mit dem WLB-Vorstand vereinbart, dass Schirmer das letzte Wort hat.

Schirmer: Aber wir haben uns geschworen, dass es zu diesem letzten Wort nicht kommt.

Grube: Wenn ich nicht die Gewissheit hätte, dass wir uns in jedem Fall verständigen können, hätte ich mich auf die Doppelspitze nicht eingelassen.

Herr Schirmer, können Sie sich mit Marcus Grube eine Vertragsverlängerung über 2024 hinaus vorstellen?
Schirmer: Ich bin zunächst einmal dankbar, dass wir hier in einer so lustvollen Theatergegenwart leben. Und ich wäre darüber hinaus sehr froh, wenn wir so gut gelaunt den Sommer 2024 erreichen würden. Ich sage zwar niemals nie, aber im Schauspiel sollte man nach zehn, zwölf Jahren über eine Zäsur nachdenken, auch wenn in der Oper oder im Ballett andere Ewigkeitswerte gelten mögen. Ich träume aber nicht von irgendeinem anderen Theater. Das hier in Esslingen – das ist es. Für mich.

Herr Grube, ist die Doppelspitze für Sie der Anlauf für eine Alleinintendanz an der Esslinger Landesbühne oder aber ein Sprungbrett in die große weite Theaterwelt?
Grube: Grundsätzlich ist es ja so, dass von Theaterleuten erwartet wird, sich auch am selben Ort ständig neu zu erfinden. Dieser Prozess ist keine unerschöpfliche Ressource. Ich sehe die Doppelspitze daher als Auftrag, bis 2024 das zu tun, was wir tun wollen und sollen. Und wir haben da noch einiges in petto. Aber natürlich ändert sich durch die Position die Wahrnehmung meiner Person im Land und in Theaterkreisen. Und daraus entwickeln sich möglicherweise neue Perspektiven. Es erleichtert die Bewerbungssituation.

Schirmer: Ich habe volles Vertrauen, dass Marcus Grube auch ohne mich die WLB leiten könnte. Sonst hätte ich die Lösung nicht vorgeschlagen.

In der Theaterszene sind dramaturgische Masterminds hinter berühmten Intendanten die Regel, Doppelspitzen die seltene Ausnahme. Warum ist das Theater so hierarchisch ausgerichtet?
Grube: Da hat sich viel geändert, ohne dass man das von außen sieht.

Schirmer: In den 70er-Jahren wurden Mitbestimmungsmodelle an verschiedenen Theatern erprobt, aber sie haben alle zu einer Lähmung geführt. Es war die Aufgabe meiner Intendantengeneration, einen dritten Weg zu finden zwischen Autorität und Basisdemokratie, also Mittel zu entwickeln, um in entscheidenden Fragen einen Guppenkonsens herzustellen.

Grube: Einen wichtigen Schritt in diese Richtung taten die nicht inszenierenden Intendanten. Weil bei ihnen nicht mehr diese Machtkonzentration stattfindet wie bei einem Regiekünstler, der seine ganz eigenen Interessen hat, und gleichzeitig auch noch Theaterchef ist. Ein Intendant, der künstlerisch eigene Eisen im Feuer hat, kommt als Vermittler kaum noch in Frage.

Dem entnehme ich, dass Sie als Co-Intendant nicht mehr Regie führen werden.
Grube: Ich habe auch bisher nur in Sondersituationen inszeniert, bei „Schtonk!“ etwa, weil ich die Fassung erstellt hatte und weil es sich aus den Gesprächen mit den Rechteinhabern so ergeben hat. Bei solchen Ausnahmefällen wird es auch künftig bleiben.

Ist die Esslinger Tandemlösung auch ein Modell für andere Bühnen?
Schirmer: Hannes Rettich, der 2004 gestorbene große Theaterförderer des Landes, hat einmal gesagt: Die Strukturen haben sich nach den handelnden Personen zu richten, nicht umgekehrt. Das bringt die Sache auf den Punkt. Die Verantwortung auf mehrere Personen zu verteilen, finde ich prinzipiell gut, aber es hängt von den Personen ab. Die Tandemlösung ist für uns ideal, andere Häuser müssen ihre eigenen Lösungen finden.

Grube: Eine Rezeptverordnung für andere Theater sollte es nur nach einer Diagnose der dortigen Sachlage geben.

Sie haben an der WLB bisher eine bemerkenswerte Erfolgsstrecke hingelegt. Was ist aus Ihrer Sicht das Geheimnis dieses Erfolgs?
Grube: Die Überzeugung, dass zuerst die Frage, was ist der Mensch, kommt und dann die Frage, was ist die Kunst. Das heißt: Es geht uns um Geschichten über menschliche Verhältnisse und Verstrickungen, über Sinnzusammenhänge und Sinnverluste.

Schirmer: Das Erzählen geht der künstlerischen Ausgestaltung voraus. Wir wollen die Menschen so einfach wie möglich und so kompliziert wie nötig erreichen – auf einem Weg, der weder altmodisch noch betont avantgardistisch ist, sondern dem vertraut, was Theater kann: erzählen.

Teil am Erfolg hat auch die Junge WLB, die Kinder- und Jugendsparte. Haben Sie nie an ein Triumvirat mit dem Junge-WLB-Leiter Marco Süß gedacht?
Schirmer: Nein. Die Junge WLB steht für sich, sie schöpft ihre Kraft aus ihrer Doppelrolle als Teil des Hauses und als eigenständige Sparte. Im Sommer 2020 wird Marco Süß, den Manuel Soubeyrand nach Esslingen holte und den ich sofort übernommen habe, 16 Jahre lang an der WLB gewesen sein – im Kinder- und Jugendtheater eine sehr lange Zeit. Er hat angekündigt, dass er seinen Vertrag nicht verlängern wird.

Wir wissen alle, dass sich Erfolg am Theater in Besucherzahlen misst, die aber noch kein Indikator für Qualität sein müssen. Was ist aus Ihrer Sicht ein Qualitätsindikator für eine Landesbühne wie die WLB?
Grube: Das Ensemble.

Schirmer: An zweiter Stelle die Regisseure und ihre Ausstatter und dann erst ein interessanter Spielplan.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der aktuellen Theaterszene und der aktuellen Ästhetiken?
Schirmer: Der Erfolg, den wir hier haben, beweist, dass es eine große Sehnsucht nach Geschichten gibt. Zugleich verschwindet immer mehr der feste Kanon an alten und neueren Klassikern, die das Publikum und die Kritiker kennen und möglicherweise schon mehrfach gesehen haben. Genau das gibt uns aber auch die Chance, diese Texte neu zu erzählen und neu zu befragen.

Grube: Ein Theater wie die WLB hat nicht die Hemmschwelle, die Zugangscodes zur Kultur herunterzubrechen – was heute dringend nötig ist. Die Renommierbühnen – die sogenannten Leuchttürme – tun sich damit schwer. Freilich passt auch unser Schlüssel nicht in jedes Schloss. Die Staatstheater haben andere Aufgaben, und die sollen sie auch wahrnehmen. Auf jeden Fall aber muss Theater das sein oder wieder werden, was der Soziologe Ray Oldenburg einen „dritten Ort“ nannte: ein Ort jenseits von Familie und Arbeitsplatz, ein Ort für die gesellschaftliche Auseinandersetzung.

Das Interview führte Martin Mezger.