Erotische Lockungen aus der Fantasiewelt: Julian Häuser als Anselmus und Mira Leibold als Serpentina. Foto: Björn Klein - Björn Klein

Die Novelle von 1814 um einen jungen Mann zwischen Fantasie- und Realwelt geht in Jenke Nordalms szenischer Version für Zuschauer ab 16 Jahren fulminant über die Bühne: gleichermaßen komisch wie bewegend.

EsslingenDie Traumfabrik lässt grüßen: Happy-End mit Doppelhochzeit! Veronika kriegt den frisch zum Hofrat beförderten Heerbrand, Erfüllung ihrer bürgerlichen Träume. Der Student Anselmus heiratet die megaschöne Serpentina, eine sexy Fantasiegestalt. Aber meint Regisseurin Jenke Nordalm das wirklich ernst? Wohl nicht. Denn das Ende erscheint mehr als nur ironisch gebrochen, schließlich können Veronika und Heerbrand im Kuss nicht wirklich zusammenfinden. Ihnen steht ihr Tick im Weg, ein plötzliches Körperzucken, das alles Wollen in die falsche Richtung führt. Ein schöner Slapstick. Und Serpentinas Hochzeitskleid, dessen Schleier mit Hilfe einer Windmaschine wolkig aufgebläht wird, ist so opulent, dass es den vor Glück hyperventilierenden Anselmus fast erdrückt und kaum Platz findet auf der kleinen Bühne des Podiums 1 im Esslinger Schauspielhaus, wo die Junge WLB jetzt die Saison mit einem Paukenschlag eröffnete.

Denn dieser Theaterabend, der E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der goldne Topf“ von 1814 in einer Bühnenadaption für Jugendliche ab 16 Jahren zeigt, ist auf allen Ebenen fulminant gespielt und gleichermaßen mitreißend komisch wie berührend. Jenke Nordalm hat das Stück selbst für die Bühne bearbeitet, seinen Handlungsstrang gut nachvollziehbar herausgearbeitet, ohne die sprachliche Qualität zu kurz kommen zu lassen. Ihr Kunstgriff, der Hauptfigur Anselmus ein Darsteller-Quartett gegenüberzustellen, das durch unterschiedliche Rollen switcht, wichtige Erzählpassagen durch chorisches Sprechen dramatisch befeuert und Anselmus durch die fantastische Geschichte jagt, geht dank dem präzise und mit leidenschaftlicher Wucht agierenden Ensemble auf. Timo Beyerling, Alessandra Bosch, Daniel Großkämper und Mira Leibold gelingt das wirklich fantastisch: dieses ständige Wechseln zwischen ausdrucksstarkem Deklamieren und präziser Charakterisierung ihrer Rollen.

Julian Häuser ist ein sympathischer Darsteller des Studenten und Pechvogels Anselmus. Ein Junge unserer Zeit: in Schlabberhose und Schachbrett-Vans, mit Wollmütze auf dem Kopf und Nerdbrille im Gesicht. Ein knuffiger junger Mann, halt nur mit einer etwas anderen Realitätswahrnehmung: verträumt, tollpatschig. Dass sich die Konrektorstochter Viktoria unglücklich in ihn verliebt (da hat sie noch keinen Tick), kann man verstehen. Dass sie sich magische Hilfe bei einer hexenhaften Alten sucht, wirkt aus heutiger Sicht ein bisschen esoterisch überdreht. Freilich ist sie nach der Aktion des Zauberweibs, die sich bei Vollmond in einen gar schrecklichen Werwolf verwandelt, ziemlich mit den Nerven fertig (deshalb der Tick). Und geholfen hat’s ihr auch nicht. Aber da ist ja glücklicherweise noch Heerbrand.

Der Abend entwickelt ein rasantes Tempo, das die Situation von Anselmus, der hin und her geworfen wird zwischen seiner Fantasiewelt und der bürgerlichen, fast körperlich spürbar macht. Ausstatterin Vesna Hiltmann hat einen einfachen, praktikablen Spielraum geschaffen: umgeben von einem Fadenvorhang, eine romantische Seelandschaft mit alten Bäumen im Hintergrund. Mehr braucht es nicht, um Anselmus, umworben vom schlangenmenschartigen Archivarius, dem er Kopierarbeiten abnimmt, und von der erotisch lockenden Serpentina, durch die Szenen zu hetzen.

Hier, im leeren Raum, wälzt sich Anselmus in Zitteranfällen oder knutscht mit Serpentina, die sich zuvor in Netzoutfit und grün schimmerndem Schuppenrock durch die Fäden des Vorhangs geschlängelt hat, während die böse Alte gleich in mehrfacher Ausführung durch die Fäden lugt und ihre Flüche flüstert: „Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall“. Das Chorquartett trägt dann furchterregende Grimassen-Masken. Körper knäueln beim Punschbesäufnis durcheinander, Wort- und Gitarrenriff-Kanonaden befeuern die Szenerie. Einen Golfspiel-Auftritt des Konrektors gibt es genauso wie Shopping-Ekstasen der Tochter, die Quietschanfälle bekommt, wenn sie hübsche Ohrringe erspäht. Oder sie singt herrlich schief den Muse-Hit „Unintended“. Viel ist los bis zum Schein-Happy-End mit seinen deformierten Paaren. Ein Ende, das nur eines sagen will: Entscheidet euch bloß nicht für eine Seite, nehmt euch einfach das Beste aus beidem und findet selbst eine Balance.

Die nächsten Abendvorstellungen: 20. September, 22. Oktober und 27. November. Außerdem gibt es mehrere Schulvorstellungen.