In einer auseinanderfallenden Welt: Elif Veyisoglu als Eira (vorne) mit (von links) Gesine Hannemann als Bera, Ralph Hönicke als Könik und Markus Michalik als Borne. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Mit kraftvollem Körpertheater hat der Regisseur Casper Vandeputte den Roman „Das Licht“ von Torgny Lindgren an der Esslinger Landesbühne (WLB) in Szene gesetzt. Die düstere Parabel des schwedischen Autors handelt von einer vergangenen Epidemie, der fast alle Bewohner eines abgelegenen Dorfs zum Opfer fielen. Die Überlebenden führen gegeneinander einen Kampf voller Bosheit.

EsslingenEs beginnt mit dem dunklen Lied des Todes. Im hintersten Winkel der Bühne sitzt der Schauspieler Reinhold Ohngemach. Auf der Mundharmonika spielt er eine melancholische Melodie. Im Schauspielhaus der Esslinger Landesbühne (WLB) hat der holländische Regisseur Casper Vandeputte die deutschsprachige Erstaufführung der Bühnenfassung von Torgny Lindgrens „Das Licht“ inszeniert. Tom Blokdijk, ehemals Dramaturg bei Theatergröße Johan Simons, bearbeitete mit seinem Schriftsteller- und Theaterkollegen Koos Terpstra den Roman, der 1989 in Deutschland unter dem Titel „Die Legende vom Lügen“ erschien. Uwe Dethier hat die Bühnenfassung ins Deutsche übersetzt.

Der Plastikboden in Julian Maiwalds offenem Bühnenraum ist mit Hasenkötteln übersät. Die Handlung siedelte der schwedische Schriftsteller Lindgren, der 2017 starb, im Mittelalter an. In dem Dorf Kadis wütete die Pest, die der Bauer Jasper durch ein Kaninchen ins Dorf brachte. Die Tiere vermehrten sich rasant. Nach und nach tötete die Krankheit fast alle Dorfbewohner. Nur sieben überlebten. Rebekka Wörmanns Kostüme sind ebenso zeitlos wie die Bühne. Das Regieteam interessiert an Lindgrens Parabel das Verhalten von Menschen, deren Welt und deren Regeln aus den Fugen geraten. Die Verwirrung, aus der sich die Dorfbewohner nicht befreien können, spiegelt Wörmann in Kostümen, die leicht aus dem Rahmen fallen. Mit löchrigen Sportkitteln, wirrem Haar und Abendroben, wohl aus besseren Tagen, holt sie die Figuren in die Gegenwart.

Prozess der Unterdrückung

Die Protagonisten sind Menschen, die an ihrer eigenen Dreistigkeit und Bosheit ersticken. Auf den Spagat, diese Anti-Helden zu verkörpern, lässt sich das Ensemble der WLB mit verblüffender Überzeugungskraft ein. Allen voran treibt Reinhold Ohngemach den Kampf der Menschen gegen die eigene Moral auf die Spitze. In der Rolle des Vaters Avar vergewaltigt er seine Tochter, um einen Erben zu zeugen: „Wir müssen etwas tun, womit die Krankheit nicht rechnet, etwas gänzlich Ungereimtes, das den Tod vor den Kopf stößt, damit er sprachlos wird, den Kürzeren zieht.“ Seiner eigenen Tochter Gewalt anzutun, ist im Angesicht des grassierenden Todes für ihn kein Tabu mehr. Nina Mohr findet sich keineswegs mit der Opferrolle ab. Klug zeichnet die Schauspielerin den Prozess der Unterdrückung nach. Den Hass gibt sie an Önde weiter, der im Dorf für alles und jedes eine Lösung hat. Virtuos demontiert Antonio Lallo diese Figur. Für die – recht überschaubaren – vergnüglichen Momente des knapp zweistündigen Abends sorgt er, wenn er seinen Önde Licht in das Geheimnis um „Bibergeil“ bringen lässt.

Als Könik verliert Ralph Hönicke nicht nur sein Kind, sondern auch seinen Verstand. Mit abgeschnittenem Ohr und einem Kaninchenfell, das er wie einen Verband um den Kopf trägt, ist zwar die Verzweiflung des Vaters sehr dick aufgetragen. Dennoch erfasst Hönicke die Komplexität der Figur. Das gilt auch für Elif Veyisoglu als seine Partnerin Eira, die in der auseinanderfallenden Welt nicht nur zur Diebin wird. Auch sie kann den gemeinsamen Sohn nicht schützen, als er eines Tages entführt wird. Was es bedeutet, wie gelähmt durch das eigene Leben zu treiben, vermittelt die Schauspielerin sensibel und sehr anrührend.

Die Balance zwischen Lachen und Schrecken liegt auch Markus Michalik. Wegen einer Verletzung spielte er bei der Premiere im Rollstuhl. Das hielt ihn aber nicht davon ab, mit kraftvollem Körpertheater das letzte bisschen Ordnung auf der Bühne zu zertrümmern. Als Borne träumt er mit Bera vom eigenen Kind und bekommt diesen Wunsch auch erfüllt. Wollüstig und wirr verkörpert die temperamentvolle Gesine Hannemann diese Bera, die lieber mit ihren Ziegen lebt als sich Bornes Liebeswerben zu öffnen. Am Ende lassen sich beide aber doch auf eine Partnerschaft ein, die von animalischen Trieben gesteuert ist.

Kraftvolles Körpertheater

Wie Regisseur Vandeputte die Spielerinnen und Spieler mit kraftvollem Körpertheater an Grenzen peitscht, ist bemerkenswert. So befreit er die Bühnenfassung von Blokdijk und Terpstra weitgehend vom erheblichen epischen Ballast, der „Das Licht“ anhaftet – ohne diese Textlastigkeit ganz abschütteln zu können. Die Erzählpassagen, die wechselnde Schauspieler einstreuen, versperren bisweilen den Blick auf die erschütternden Kämpfe um die nackte Existenz, die in Lindgrens Roman zur Sprache kommen. Indem aber das Regieteam die Handlung beherzt aus der historischen Ferne des Mittelalters an heutige Bilderwelten heranholt, wird „Das Licht“ beklemmend aktuell. Die Menschen, die da auf der Bühne stehlen, vergewaltigen und sogar morden – sie könnten Figuren heutiger Unruhen oder Bürgerkriege sein.

Starke Akzente setzt die Lichtregie. Das kalte Leuchten von Neonröhren lenkt den Blick auf die Szenen, die der Regisseur im filmisch schnellen Wechsel aneinanderreiht. Rotes Licht überschwemmt die Bühne, wenn sich die Gewalt der verbliebenen Dorfbewohner gegen wechselnde Opfer entlädt. Den bemerkenswerten Leistungen des Schauspielensembles zollte das Premierenpublikum großen Applaus. Mit „Das Licht“ ist Vandeputte eine Inszenierung gelungen, die im allerbesten Sinn aufwühlt und verstört. Die düstere Fabel von Menschen, die in Zeiten der Katastrophe ihre moralischen Werte vergessen, ist mehr als ein philosophisches Planspiel. Denn an der Esslinger Landesbühne sind es eben nicht fabelhafte Gestalten, sondern die Menschen, die einander den Krieg erklären.

Die nächsten Vorstellungen: 6., 18., 26. und 28. März sowie 17. April, 16., 22. und 26. Mai.