Der Drahtzieher und sein Zarenopfer: Matthias Klink als Schuiski (rechts) und Adam Palka als Boris Godunow. Foto: Matthias Baus - Matthias Baus

Paul-Georg Dittrichs Inszenierung des „BORIS“-Projekts an der Stuttgarter Oper jagt Mussorgskis „Boris Godunow“ und die Uraufführung von Sergej Newskis „Secondhand-Zeit“ durch die Unheilsgeschichte von gestern, heute und morgen.

StuttgartDas Schicksal eines genialen Dilettanten und wahren Avantgardisten: Als Modest Mussorgski, der nie Berufsmusiker war, 1869 die Erstfassung seiner Oper „Boris Godunow“ vorlegte, wollte sie kein Theater spielen. Keine Liebesstory, nur düstere Melancholie brutaler Macht, nur das Elend eines geknechteten, verblendeten, unmündigen Volks. Keine Arien, sondern karge Deklamation, kein Plüsch im Orchester, sondern kantige Instrumentation. Ein Quantensprung fürs realistische Musiktheater. Kapiert wurde das erst viel später.

In der Stuttgarter Oper wird nun der Avantgardist Mussorgski wachgeküsst – durch Verzahnung der „Boris“-Urfassung (auf Russisch) mit der Uraufführung von Sergej Newskis „Secondhand-Zeit“ (auf Deutsch). Zwischen die Szenen oder mittenrein fahren die Intermezzi des 1972 geborenen russischen Komponisten: Souverän verfügt er über die Idiome der Neuen Musik, dramaturgisch präzis registriert er sie zwischen haptischer Klanggestik und luftiger Entmaterialisierung mit den sirrenden Sounds von geschwungenen Klangschläuchen, Mundharmonika und Harmonium. Und wie einst die Musik Bernd Alois Zimmermanns ist auch jene Newskis offen für Echos der Tradition – nicht als polystilistische Ausrede, sondern als neu definierte Wiederkehr von Choral und Madrigal, Kanon und Kantilene. Die Übergänge zwischen Mussorgski und Newski sind nahtlos: ein Weiterdenken, Weiterempfinden in veränderten und rückbezogenen Klangsprachen.

Der Dirigent Titus Engel am Pult des sehr engagiert spielenden Staatsorchesters leistet seinen redlichen Beitrag, damit sich die „Kugelgestalt“ der Zeiten und Klangzeichen auch wirklich rundet. Mussorgski trimmt er mit klaren Konturen, trockener Prägnanz und erfreulicherweise ohne das Klischee russischer Seelensoße auf Vorstoß ins Neue, bei Newski modelliert er sorgsam die fein ziselierten Verästelungen, lässt Momente des Nachhalls atmen und Expressives leuchten.

„Zeit des Copy-and-paste“

Das „BORIS“-Projekt, so der Gesamttitel – ein Gipfeltreffen von altem und neuem Avantgardisten? Ja – und nein. Regisseur Paul-Georg Dittrich hat im Programmheft die Parole ausgegeben: „Wir leben in einer Zeit des Copy-and-paste oder des Sampling.“ Und das kennzeichnet seine Inszenierung recht genau: Video-Einsatz fast während der ganzen Aufführungsdauer mit Live- oder eben gesampelten Bildern, Bespielung diverser Logen des Zuschauerraums – das setzt Modernitätssignale, hat aber auch einen alten Schlingensief- oder Castorf-Bart. Grundstürzend neu ist es so wenig wie Newskis Musiksprache – und will es auch nicht sein. Denn: Dittrich geht es um die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Lebenden und Toten; um eine Zukunft, die vergessene Vergangenheit (und deren Fehler) ratlos wiederholt; um eine Gegenwart, die von der Unvergangenheit früherer Traumatisierungen vernarbt ist. Es geht um ein vergesellschaftetes, zwanghaftes Copy-and-paste, um eine Zeit aus zweiter Hand. Diese „Secondhand-Zeit“ schildert Swetlana Alexijewitsch in ihrem gleichnamigen Dokumentarroman: authentische Erinnerungen von Menschen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion, zurückreichend in eine Zeitspanne vom Zweiten Weltkrieg bis zum postsozialistischen Turbokapitalismus. Sechs dieser Schicksale hat Newski zur Vertonung ausgewählt, sechs Episodenfiguren aus „Boris Godunow“ gehen in sie über, sollen individualisieren, was bei Mussorgski in der kollektiven Masse auf- und untergeht. Klingt kompliziert und ist es auch. Ohne Vorbereitung – zumindest Lektüre der beiden Libretti – haben Zuschauer keine Verständnischance in Dittrichs visuellem Overkill aus Video, Bühnenhandlung und Rollen- ohne Kostümwechsel (da die Personen ja gerade bruchlos ineinander übergehen sollen).

Einen Anfang hat diese Geschichte so wenig wie ein Ende – und so wenig wie bisher die Welt- und Menschheitsgeschichte. Blubbernde Klang-Alchemie beschallt einen schon beim Betreten des Saals. Fast vier Stunden später lauten die letzten Worte: „Habe ich Ihnen irgendetwas erklärt? Konnte ich das überhaupt?“ Kann man natürlich nicht: trotz Blackout ein radikal offener Schluss. Dazwischen klafft die Lücke zwischen Eindeutigkeit und Erkenntnisnotstand. Einerseits: Aufstieg und Wahnsinn eines Populisten, der den legitimen Thronfolger aus dem Weg geräumt hat und sich nun mit stadiontauglichen Hymnen (klangmächtig bis zum Ohrenklingeln: Manuel Pujols Opernchor) zum Zaren Boris ausrufen lässt – ein Goldlackaffe wie eine vergrößerte Oscar-Statue. Kennt man, wiederholt sich so oder ähnlich leider bis in alle Ewigkeit. Andererseits: Dittrichs flutende Bild-Kombinatorik, die das Rätsel der Weltgeschichte nicht lösen, nur in schwindelerregenden Taumel versetzen kann.

Der auf den Vorhang projizierte sterbende Pelikan mit schlierig verklebtem Gefieder zeigt gleich zu Beginn, was es geschlagen hat: Es ist die Zeit nach der nahenden Umweltkatastrophe, aus deren Matsch sich die Überlebenden in ihren Schutz-Overalls herauswinden (die fantastischen Kostüme schufen Pia Dederichs und Lena Schmid). Der Schauplatz: ein Rondell zwischen Kathedrale, Sowjet-Futurismus und Stalin-Barock, zerborsten und mit schwarzbrauner Masse wie erkaltete Lava überzogen, geziert mit einem verblassten Mosaikrest zur Feier der Atomenergie in den Händen der Arbeitermacht (Bühne: Joki Tewes und Jana Findeklee).

Die „Boris“-Handlung – der geschichtsvergessene Ruf nach dem „starken Mann“ – spielt in postapokalyptischer Zukunft. Aus der postsozialistischen Vergangenheit wurde offenkundig nichts gelernt. Wie Fanale bleiben die Erfahrungen unsäglichen Leids im Erinnerungsraum stehen: an erster Stelle die des jüdischen Partisanen, der von den Gräueltaten der Nazis während des Kriegs berichtet. Ramina Abdulla-zadè singt ihn als Kind, Urban Malmberg als alter Mann, Elmar Gilbertsson gibt ihm im mittleren Alter Stimme und Gestalt – mit geschmeidigem Tenor und in Personalunion mit Mussorgskis Grigori, der aus ganz anderen Gründen seine Identität wechselt: denen des Machterwerbs.

Maria Theresa Ullrich glänzt in Newskis exponierter Partie der Mutter eines jugendlichen Selbstmörders (und als Amme bei Mussorgski). Carina Schmieger gibt der vorm georgischen Bürgerkrieg Geflüchteten (und Zarentochter Xenia) trefflichen Ausdruck, Stine Marie Fischer verbindet plausibel die robuste Wirtin der Schenke – einer Wodka-Zapfstation – und die naive Frau eines Kollaborateurs der Nazis. Statt Eheglück erlebte sie die Hinrichtung des Gatten. Alexandra Urquiola ist Zarensohn Fjodor mit Goldröckchen und Bärtchen sowie Aktivistin, die sich für Flüchtlinge einsetzt. Und Petr Nekoranec singt bewegend den Gottesnarren und den von kriminellen Maklern aus seiner Wohnung gemobbten Obdachlosen.

Grandios: Adam Palkas Boris

Großer Gesang also (nur Friedemann Röhlig geht in Warlaams berserkerhaftem Kneipenlied etwas die Luft aus), erst recht bei Matthias Klink als Hofintrigant Schuiski mit schneidendem Tenor und bei Adam Palka als überragendem Boris mit sonorem statt grummelndem Prachtbass; der freilich auch eindringlichste (Zwischen-)Töne hat für das Zerfallen des Zaren in Wahn und Todesangst.

Aber: Boris stirbt nicht. Er wird hinter einer Ikonenwand eingemauert (wie die Liebenden in „Aida“). Der wie eine Marionette an Schnüren gezogene Unheils-Chronist Pimen (mit wuchtig expressivem Bass, als trage er alles Leid der Welt: Goran Juric) kommt aus einem unterirdischen Verlies (wie der Prophet Jochanaan in „Salome“). Und die Kollaborateursgattin alias Wirtin sieht aus wie „Madam Butterfly“. Der Sampling-Gedanke des Regisseurs schweift durchs Opernrepertoire so wie Vincent Stefans Video-Multivision durch Live-Surrealismus, Comic und Historie; inklusive Polit-Ikonen von Peter dem Großen über Lenin, Stalin und Gorbatschow bis Putin in Dokumentarbild und am Ende auch als Chorsänger-Maske.

Gewiss kaschiert die optische Überfrachtung Mängel der Personenführung. Aber es gibt – nebst Undeutlichem und Beliebigem – Bild-Kontrapunkte, die erschütternd ins Auge stechen: etwa die blutig endende Nottaufe eines frühgeborenen Kindes als eine Art Zerrspiegel der Suizid- und Mord-Erzählungen; oder bei den Berichten von der Judenvernichtung die kahlen Birkenwälder und die beschrifteten Menschenkörper, denen zudem die wie große Hautfetzen wirkenden Pergamente von Pimens Schreckenschronik korrespondieren. Es sind diese alptraumhaften Bild-Verknüpfungen, die einen nicht loslassen, die der teils ausgebuhten, teils bejubelten Inszenierung ihren Rang verleihen: als Memento der menschlichen Gewaltgeschichte und ihrer Opfer.

Die nächsten Vorstellungen: 7., 16. und 23. Februar, 2. März, 10. und 13. April.