„Sie kennen alles, Sie wissen alles. Sie merken auch, wenn es Scheiße ist“: Reid Anderson schwärmt vom Stuttgarter Ballettpublikum Foto: Roman Novitzky - Roman Novitzky

Ballettchef Reid Anderson inszeniert einen kleinen persönlichen Rückblick auf seine Intendanz.

StuttgartNein, er hat weder gesteppt noch Tambourstäbe geworfen – aber er war sein übliches charmantes, trockenes, pointenreiches Selbst, vielleicht noch ein wenig lockerer als sonst. Reid Anderson ruht strahlend in sich und freut sich offensichtlich auf die Rente, die am nächsten Montag beginnt. Über zwei Stunden dauerte im Schauspielhaus die „One-Man-Show“ mit dem scheidenden Ballettintendanten, bei der er tatsächlich allein auf der Bühne stand, um eine ganz persönliche Auswahl von Filmclips aus den 22 Jahren seiner Intendanz zu zeigen.

Beglückende Selbstironie

Es ist diese beglückende Selbstironie, die Anderson all den aktuellen oder vergangenen Ballettdirektoren-Kollegen wie John Neumeier, Ivan Liska oder Martin Schläpfer voraus hat. Mit Pathos focht er nur, wenn es um wirklich Wichtiges wie den immer und immer wieder verschobenen Neubau der John-Cranko-Schule ging. Am Sonntagmittag nun ließ Anderson das ansonsten perfektionierte Zwischen-den-Zeilen-Sprechen auch mal weg und wurde öfters deutlich, etwa mit einem „I was pissed off“ über die heftigen Budgetkürzungen, die ihn von Toronto nach Stuttgart trieben – der kanadischen Regierung sei hiermit Dank. Er schwärmte von seinen Tänzern, lobte seine Ballettmeister und Mitarbeiter in den Himmel, ließ uns ein wenig hinter die Menschen auf der Bühne blicken („Die zwei sind wie Öl und Wasser“) oder feuerte herrlich treffende Pointen ab – über Eric Gauthier etwa: „Schon als er aus seiner Mami rausgekommen ist, hat er gesagt ‚Ich in ein Star!‘“.

Dafür, dass er sich selbst nicht so wichtig nahm, werden wir ihn vermissen, noch viel mehr natürlich für die fulminanten Entdeckungen an Tänzern und Choreografen. Die gefilmten Erinnerungen nahmen ein, zwei Mal den Charakter einer Rechtfertigung an: Warum hat es damals mit Margaret Illmann nicht geklappt (sie hat die Kompanie nur als ein Vehikel für ihren Ruhm gesehen), warum importierte er ein Stück von James Kudelka, das hier sowas von durchfiel: Anderson erklärt es geduldig. Und sein Publikum schwelgte in der Nostalgie von 22 Jahren: der junge Vladimir Malakhov, der blonde Prinz Robert Tewsley, Yseult Lendvai mit ihren wunderschönen Armen, die große Tragödin Sue Jin Kang als Kameliendame…

Es waren viele und deshalb viel zu kurze Fitzelchen der Lieblings-Kreationen des Ballettdirektors, Christian Spucks „Dos Amores“ mit den Pendeln, Marco Goeckes „Nussknacker“, Werke von Kevin O’Day, Edward Clug oder Demis Volpi. Auch ein Ausschnitt aus William Forsythes „Love Songs“ war dabei, die wir wohl nie wieder auf einer Bühne sehen werden, weil der Choreograf dieses grandiose, wichtige Stück nicht mehr zeigen will. Vielleicht sollte jemand den Schlüssel zum DVD-Archiv des Stuttgarter Balletts klauen.

Ein Fan seines Publikums

„Hier kann man hinfallen und dennoch wieder aufstehen“: Reid Anderson schwärmte vom deutschen Theatersystem, vom Stuttgarter Dreispartenhaus, wo man gemeinsam etwas so Großartiges wie „Tod in Venedig“ machen kann, von der unglaublichen Qualität der Werkstätten. Und lobte zum Schluss wieder einmal sein grandioses Ballettpublikum: „Sie kennen alles, Sie wissen alles. Sie merken auch, wenn es Scheiße ist“. In Kanada sei er lediglich zwischendurch zehn Jahre im Exil gewesen, „Stuttgart war und ist mein Leben“. Die Abschiedsfeierlichkeiten gehen bis Sonntag weiter, wo es nach der Ballettgala sicher Tränen gibt.

Ballett im Park am Samstag (John-Cranko-Schule) und am Sonntag (die Abschiedsgala), alle anderen Termine auf www.stuttgarter-ballett.de