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Kenneth MacMillans Tanzdrama „Mayerling“ über den Selbstmord des österreichischen Thronfolgers Rudolf ist ein durchaus plüschgefährdetes Opus. Das Stuttgarter Ballett zeigt das Stück nun aber in der neuen Ausstattung des großen Bühnen- und Kostümbildners Jürgen Rose – und in des Altmeisters neuen Kleidern wirkt es gleich viel befreiter von Ballast und Brokat.

StuttgartHätte Ballettintendant Tamas Detrich einfach nur „Mayerling“ nach Stuttgart geholt, wir müssten uns fragen, in welche graue Vorzeit er uns zurücklotsen möchte. Vor 40, 50 Jahren schuf der britische Choreograf Kenneth MacMillan seine besten Werke im hiesigen Staatstheater, ein Handlungsballett von ihm hat die Kompanie aber noch nie getanzt. In Stuttgart, wo jeder Zuschauer John Crankos Ästhetik und Erzählkunst über Jahrzehnte verinnerlicht hat, springt der Unterschied zwischen den beiden eng befreundeten Choreografen sofort ins Auge, gerade weil ihr Ansatz sehr ähnlich ist. Er fällt nicht zugunsten des 1992 verstorbenen MacMillan aus.

Klugerweise aber hat Tamas Detrich den Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose mit einer neuen Ausstattung des, Verzeihung, alten Schinkens beauftragt, und deshalb sitzt man nun staunend und manchmal atemlos ob so viel Schönheit, ob so viel feinster Handwerkskunst in einer Aufführung, die von endlosen Adelsaufmärschen bis zum knallharten, tiefenpsychologischem Drama alles bietet. Roses neues Kleid verbessert „Mayerling“ ganz erheblich (und kann es dennoch nicht ganz retten): Ohne einen Schritt der Choreografie zu ändern, erhebt der Ausstatter, der jahrelang auch als Regisseur gearbeitet hat, das Werk aus seiner Zeitgebundenheit, befreit es von seinem Ballast an Gold und Brokat, gibt ihm vor allem ein in seiner Kargheit entsetzliches, erlösendes Schlussbild.

Psychisch labiler Thronfolger

Das Ballett über den Selbstmord des österreichischen Kronprinzen Rudolf von Habsburg entstand 1978 in London. Zu einer nicht immer schlüssigen Partitur aus Werken von Franz Liszt, im Stuttgarter Opernhaus dirigiert von Mikhail Agrest, schildert MacMillan zu Beginn die Lage des psychisch labilen, von allen Seiten unter Druck gesetzten Thronfolgers, um die Dramaturgie dann in einer Folge heftiger, oft gewalttätiger Duos bis zu den tödlichen Schüssen zu steigern, mit denen Rudolf im Jagdschloss Mayerling seine Geliebte Mary Vetsera und sich selbst umbringt – ein Skandal, der den Glauben an die Monarchie erschütterte. Aber der Choreograf umgibt Rudolf mit viel zu vielen Figuren. Durch Roses Kostüme kann man sie nun immerhin besser auseinanderhalten; dennoch ist die Handlung, anders als bei Cranko, ohne Lektüre einer Inhaltsangabe kaum plausibel.

Hartnäckig stört die Diskrepanz zwischen der zweifellos faszinierend choreografierten Todessucht Rudolfs und MacMillans Festkleben an einem schon damals überkommenen Schema von inhaltlich überflüssigen, nicht integrierten Tanzszenen. Da kehrt die wütende Kaiserin Elisabeth vom Skandal zurück, den ihr Sohn Rudolf bei seiner Hochzeit entfacht hat, und legt einen niedlichen Reigen mit ihren Hofdamen hin, nur damit getanzt wird. In der Kaschemme immerhin, die Rudolf im zweiten Akt aufsucht, machen die eingelegten Divertissements wenigstens Spaß: Die vier großartig besetzten Offiziere, die Rudolf ständig aufrührerische Parolen ins Ohr flüstern, fliegen nur so über die Bühne und wirbeln um Anna Osadcenko als verruchte Mätresse herum.

Jürgen Rose fängt ganz düster an und lässt es bei der heimlichen Beerdigung von Mary Vetsera in Strömen regnen. Die Hintergrundprospekte, alles Zeichnungen des Bühnenbildners, sind oft fast dokumentarisch, die Bäume stehen kahl, Nebel hängen über dem Feld. Glutrot schwebt der k.u.k-Doppeladler über dem Zwischenvorhang, einmal schaut Egon Madsen als Kaiser Franz Joseph hinauf und zweifelt tief verunsichert an der Zukunft. Rose räumt alles aus dem Weg, was man nicht braucht, deutet vor allem die Pracht der Festsäle nur gestrichelt an. Im Hintergrund taucht durch die diaphanen Wände jeweils ein weiterer Raum auf, eine zweite Ebene, die Kenneth MacMillan sicher gefüllt hätte, wäre ihm damals ein so kongenialer Künstler zur Seite gestanden.

Statt des Golds und Brauns der alten Ausstattung von Nicholas Georgiadis spannt Rose sein Farbspektrum von Schwarz bis Weiß – das klingt nüchtern, aber wir sehen Myriaden der elegantesten Grautöne, selbst Schwarz gibt es bei Rose in hundert Schattierungen. Und dann schimmert unter dem Schwarzweiß der Roben ein Grün hervor, ein Hauch Flieder, ein Burgunderrot mit silbernen Rosen für die strenge Kaiserin, durchsichtig sogar im Duo mit ihrem Liebhaber. Die Werkstätten des Staatstheaters haben Unmengen feinster Spitze verarbeitet, Plissées, Draperien, wasserfallartig geraffte Tournüren und große Schleifen, bis zur Halskette und den historisch akkuraten Frisuren passt alles perfekt. Kein Kleid gleicht dem anderen, es ist ein Triumph der subtilen Nuancen, des unantastbaren Stilempfindens, der schönen Linie. Man kann die gesamten drei Stunden damit verbringen, nur diese traumhaften Kreationen zu bewundern – um die Avantgarde in Trikots kümmern wir uns einfach beim nächsten Ballettabend wieder.

Tänzer in bestechender Form

Das Stuttgarter Ballett tanzt in bestechender Form, wobei das Corps de ballet leider kaum zu tun hat. Miriam Kacerova als stolze und sehr einsame Elisabeth, die einfach keine Liebe zu ihrem Sohn in sich finden kann, Alicia Amatriain als intrigante und doch um Rudolf besorgte Hofdame Larisch, die junge Diana Ionescu als völlig verängstigte Braut des Prinzen, sie alle entwerfen feine, detaillierte Porträts. Marcia Haydée schickt als Kaisermutter eiskalte Blicke, Georgette Tsinguirides trägt als Hofdame das schönste Kleid des Abends, auch all die anderen Charakterdarsteller spielen zurückhaltend und klug.

Als junge, glutvolle Mary Vetsera bringt Elisa Badenes eine lachende Leichtigkeit des Sterbens in Rudolfs Verzweiflung, wenn sie unbekümmert, halb Groupie und halb Gefährtin im Tode, mit seiner Pistole spielt. Im Zentrum des Abends dehnt sich Friedemann Vogels Kronprinz in weiten, sehnenden Arabesquen, er lacht der verkommenen Gesellschaft bei Hofe zynisch ins Gesicht, schmiegt sich mit irren Augen an einen Totenschädel und fällt im dritten Akt auf geradezu beklemmende Weise in sich zusammen. Es ist ein weiterer Höhepunkt seiner an solchen nicht armen Karriere.

Heftig ist der Schluss des deprimierenden Balletts, wenn Jürgen Rose den Raum ins Weite öffnet und bis auf den Paravent, hinter dem die suizidalen Schüsse fallen, alles von der Bühne nimmt, bis nur noch verzweifelte Silhouetten im hellen Licht übrig sind, das Schwarz und das Weiß. 1962 schuf er mit „Romeo und Julia“ seine erste Ausstattung in Stuttgart, „Mayerling“ dürfte seine letzte Großtat sein und fasst eine Lebensleistung zusammen, die das deutsche Ballett ganz entscheidend mitgeprägt hat. Das Publikum erhob sich geschlossen, als er am Ende auf die Bühne kam.

Weitere Aufführungen: 24., 25., 28. Mai, 1., 8., 9. Juni (nachmittags und abends), 28. Juli sowie in der nächsten Spielzeit.