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Im Interview spricht der Dirigent über seinen Stil der Bach-Interpretation und über die Möglichkeiten, die alten Werke der Empfindungswelt eines heutigen Publikums zu vermitteln.

StuttgartKernig und kräftig will er Bachs Musik interpretieren – und so gibt sich der Dirigent Hans-Christoph Rademann auch selbst. Am 1. Juni 2013 trat der gebürtige Dresdner die Nachfolge Helmuth Rillings als Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart an.

Herr Rademann, Sie gründeten 1985 den Dresdner Kammerchor. Wie kam diese Privatinitiative eines 20-jährigen Musikstudenten damals in der DDR an?
Die spezielle Situation in der DDR war sogar die Initialzündung für den Chor – auch wenn das nicht Absicht war. Ein Studium aufzunehmen, bedeutete in der DDR zunächst einmal: Ernteeinsatz. Wir angehenden Dresdner Musikstudenten rückten also zur Apfel- und Kartoffelernte aus aufs Land. Da waren die Abende lang, also haben wir gemeinsam gesungen. Mir kam dann der Gedanke, dass wir mit einem klein besetzten Chor auf professionellem Niveau in Dresden eine Marktlücke schließen könnten. Das haben wir dann getan. Einer meiner Lehrer sagte zu mir: „Machen Sie nicht so viel geistliche Musik. Das könnte Probleme geben.“ Aber das habe ich ignoriert. Wir hatten bald großen Erfolg mit unseren Konzerten.

Jetzt sind Sie Leiter der Stuttgarter Bachakademie. Wie würden Sie Ihre Bach-Auffassung beschreiben?
Unser Ziel ist, als deutsche Bach-Interpreten in der weltweiten Rezeption des Komponisten eine wichtige Rolle zu spielen. Dabei sehe ich es bei Bachs textgezeugter Musik als großen Vorteil an, dass wir Muttersprachler sind. In Fragen des Klangs bringe ich meine Anschauungen aus Mitteldeutschland mit, also aus Bachs Lebensumfeld, wo Orgeln erhalten sind, die er selbst gespielt hat – originale Klangdokumente aus seiner Zeit. Diese Erfahrungen möchte ich mit der Stuttgarter Tradition zu einem Bach-Stil verbinden, der kernig und kräftig ist, von der sprachlichen Deklamation und der Wortbedeutung gesteuert. Es kommt mir immer darauf an, was der Komponist an welcher Stelle ausdrücken wollte: wie er die oft bilderreiche Sprache in musikalische Expressivität und Klangbilder übersetzt.

Die von Bach vertonten Texte bilden oft eine Hürde für das heutige Verständnis. Wie gehen Sie damit um?
Indem wir das aus dem musikalischen Gehalt heraus entwickeln, was auch für uns wertvoll werden kann. Nehmen Sie etwa die theologisch auf die Spitze getriebene Gut-Böse-Polarität in etlichen Bach-Werken, wo ständig Teufel und Erbsünde durch Text und Musik spuken: Heute mag das in der Tat befremden. Aber diese für das moderne Menschenbild ferne Sprache spiegelt doch, dass wir selbst unsere dunklen Seiten haben und uns damit auseinandersetzen müssen – individuell wie gesellschaftlich. Insofern schließt Bachs Musik niemand aus.

Es sei denn, das Publikum schließt sich selbst aus, vor allem das jüngere. Auch die Bachakademie musiziert vor dem sogenannten Silbersee: einer grauschöpfigen Seniorenrunde. Sie reagieren darauf mit Jugendprojekten. Bringen die was?
Ich würde vorsichtig sagen: ja. Barockmusik spricht gerade die jüngeren Hörer an. Das groovt und hat einen ordentlichen Beat. Es kommen inzwischen auch wieder mehr junge Leute ins Konzert.

Die Klassik stirbt nicht aus?
Diese Sorge habe ich absolut nicht. Ich würde mir aber wünschen, dass unsere Jugendprojekte endlich als richtige Kultur anerkannt werden. Wir schließen auch da niemanden aus, wir sprechen Förderschüler ebenso an wie Gymnasiasten, Christen ebenso wie Muslime oder Religionslose.

Wie kommt das an?
Die Resonanz ist großartig, gerade auch bei Jugendlichen, die nicht schon zuhause klassische Musik kennenlernen. Man hat in Deutschland bei der Musikvermittlung viel verschlafen, die Entwicklung ist wie abgebrochen. In den Familien wird nicht mehr musiziert, die Eltern haben keine Zeit, das müssen jetzt alles die Schulen machen. Und da tut sich inzwischen erfreulich viel. Aber auch die Politiker müssen erkennen, dass Kultur kein Luxus ist, sondern ein Lebensmittel.

Sie haben die Ensembles der Bach-Akademie gründlich umgekrempelt auf historische Aufführungspraxis mit Originalinstrumenten. An Räumen mit originaler Akustik fehlt es aber in Stuttgart und der Region. Könnte auch das ein Grund sein für eine teilweise Abkehr des Publikums?
Eine Dame hat tatsächlich das Abo gekündigt mit der Begründung, sie brauche für die barocken Instrumente ein neues Hörgerät, und das könne sie sich nicht leisten. Dabei tragen die Originalinstrumente teilweise sogar besser. Aber das Grundproblem besteht: Im Beethovensaal funktionieren zwar große symphonische Besetzungen sehr gut, aber kleinere nicht.

Also braucht Stuttgart einen neuen Konzertsaal?
Stuttgart braucht unbedingt einen neuen Konzertsaal mittlerer Größe, mit ungefähr 1600 Plätzen und geringen Abständen zur Bühne, damit die Musik die Hörer energetisch mitreißen kann. Und damit man von den hinteren Reihen nicht nur nach vorne auf kleine Figuren blickt und denkt: Da wird sicher schön musiziert.

In einer Bach-Kantate ist die Rede von „Kapital und Interessen“. Fließt hier in der Region das Kapital für Ihre Interessen?
Wir haben eine stabile Förderung durch die Stadt Stuttgart und das Land, müssen aber rund ein Drittel unseres Etats – über eine Million Euro – durch Sponsorengelder aufbringen. Ein großer Teil der Arbeit unserer Intendanz ist Geldbeschaffung. Aber gerade dieses Finanzierungsmodell macht die Sache für die Sponsoren attraktiv, weil sie im mäzenatischen Sinne zu Mitträgern der Institution Bachakademie werden. Glücklicherweise gibt es in Baden-Württemberg unter den Führungskräften sehr viele gescheite und kulturaffine Menschen.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft der Bachakademie?
Wir wollen weltweit die Rolle spielen, die die Bachakademie mit Helmuth Rilling innehatte – nur eben mit den zeitgemäßen Mitteln der historischen Aufführungspraxis. Für mich ist die eigentlich gar nicht historisch, sondern modern: die einzige Art, wie wir uns den Werken angemessen nähern können.

Die Bachakademie ist nicht auf Barockmusik beschränkt, Rilling brachte sogar Uraufführungen heraus. Können auch Sie sich neue und neueste Musik vorstellen?
Selbstverständlich. Das werden Sie beim nächsten Musikfest erleben.

Also 2020.
Ja. Wir stellen das Musikfest neu auf. Dazu ist der Zeitraum in den letzten beiden Sommerferienwochen ungünstig. Deshalb gehen wir in den Juni.

Das Interview führten Martin Mezger und Thomas Krazeisen.

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