Jörg Barner hat de Andenpass Agua Negra überquert, der der bis auf 4753 Meter hinaufführt und die Grenze zwischen Chile und Argentinien markiert Foto: privat - privat

Jörg Barner hat sich eine ungewöhnlich Auszeit genommen. Er hat sein Fahrrad geschnappt und ist in 535 Tagen 32 802 Kilometer weit einmal um den Erdball geradelt.

Kreis EsslingerEr will kein Weltverbesserer sein, er ist keiner, der Luftschlösser baut und er weiß, was eine 70-Stunden-Arbeitswoche bedeutet. Jörg Barner hängt an seiner Heimat, auch wenn es ihn fortzieht, und er erlebt Überfluss, wo Verzicht die Menschen reicher machen würde. „Von dem, was wirklich wichtig ist“, sagt er, „haben wir seltsamerweise zu wenig.“ Zeit, Demut, Empathie – in einer Welt, wie er sie wahrnimmt, in der Wachstum als unverzichtbar gilt, ist dafür kaum Platz.

An der Schwelle zum fünften Lebensjahrzehnt beschließt Barne, dem Raum zu geben, was sich als irritierendes Unbehagen und diffuse Sehnsucht in sein Leben geschlichen hatte, als er ein Teenager war. Dasselbe Gefühl, das ihn zweifeln ließ, ob ein Leben mit Stechuhr irgendeinen Sinn ergibt. Seinen Job als Maschinenbau-Ingenieur hat er irgendwann eingetauscht gegen den des Waldarbeiters und Viehhirten in den Südtiroler Bergen. Am 17. April 2018 beginnt dann sein größtes Abenteuer. Der 40-Jährige aus Owen packt das Nötigste zusammen, setzt sich aufs Fahrrad und fährt los. 535 Tage lang, 32 802 Kilometer weit, einmal um den Erdball.

Er schläft in Abwasserrohren auf 4000 Metern Höhe in den peruanischen Anden, ist Gast in der Jurte von Yak-Hirten in Tadschikistan und kommt im Staub des Pamir-Highways in den Bergen Zentralasiens beinahe um, als er dehydriert und völlig entkräftet am Straßenrand zusammenbricht. Woher die Hilfe kommt, hat er nie erfahren. Stunden später holt ihn die Kochsalzlösung, die in seine Venen sickert, zurück ins Leben. Eine Grenzerfahrung, die er Dummheit nennt. Ein Moment der Respektlosigkeit gegenüber Hitze, Trockenheit und dünner Höhenluft. Trotzdem sagt er: „Äußerlich wirklich bedroht gefühlt, habe ich mich während der gesamten Reise nie.“ Offenheit, Gastfreundschaft und Toleranz erlebt Jörg Barner vor allem jenseits der Grenzen der sogenannten freien Welt. Im kleinen Dorf Mazdavand im Iran nahe der Grenze zu Turkmenistan lädt man ihn ein, in der Moschee sein Lager aufzuschlagen, weil es spät nachts keine andere Schlafstatt gibt. In Vietnam bahnt ihm ein Bauarbeiter im strömenden Regen mühsam einen Weg durch Schlammmassen, nachdem ein Erdrutsch die Straße verschüttet hatte. Er erlebt Hitze und Einsamkeit in den kargen Weiten Asiens, tobende Stürme in Feuerland und klirrende Kälte im kanadischen Norden. Eineinhalb Jahre lang ernährt er sich überwiegend von Nüssen, Trockenfrüchten und Brot. „Von allem, was energiereich ist und sich problemlos transportieren lässt“, sagt er. Auf einen Camping-Kocher hat er verzichtet – aus Gewichtsgründen. Dass der Tisch trotzdem immer wieder reich gedeckt ist, liegt an den Menschen, denen er unterwegs begegnet und die ihn einladen.

Auf einer Farm in Tasmanien findet er Arbeit, schert Schafe, repariert Zäune. Im groß-elterlichen Betrieb, den heute der Bruder in Nabern bewirtschaftet, hat Jörg Barner früh gelernt, was man als Landwirt braucht. „Wenn’s drauf ankam, hat das immer mehr gezählt als das, was ich im Studium gelernt habe.“ Eine zweite Regel, die er im Laufe seiner langen Reise verinnerlicht: „Je ärmer die Gegend, desto aufgeschlossener und herzlicher ihre Menschen.“ Eine Herzlichkeit, die ohne Sprache auskommt und die erst wieder Risse bekommt, als er in der Lage ist, sich mit Worten zu verständigen. Im US-Bundesstaat Oregon schmeißt ihn ein schwer bewaffneter Security-Mann kurzerhand aus einem Supermarkt, weil er Rad und Gepäck so am Eingang platziert hat, dass er beides im Blick behält. Am selben Ort erfährt er, dass zehn Sorten laktosefreier Milch ein Grund sein können, sich an der Kasse über mangelnde Vielfalt zu beschweren.

Dass er das alles nicht mehr will, war Jörg Barner lange klar, bevor er erstmals die Teck wieder vor Augen hat. Durchnässt und erschöpft nach einer langen Schlussetappe im Regen über Schwarzwald und Schwäbischer Alb passiert er das Ortsschild in Owen. Im Tagebuch der Mutter ist unter dem Datum ein einziger Satz vermerkt: „Er ist wieder da.“ Er lädt sein Gepäck ab, setzt sich wieder aufs Rad und fährt vom Elternhaus den steilen Weg hinauf zur Teck. „Erst damit war ich angekommen.“ Lange bleiben wird er nicht. In der Schweiz gibt es eine Alm, die er als Senner auf Zeit bewirtschaften will – ein Angebot von einer flüchtigen Bekanntschaft irgendwo in der Atacama-Wüste zwischen Chile und Peru. Was danach kommt, weiß er noch nicht. Nur eines steht fest: „In einem Büro ist für mich kein Platz mehr.“

Dem Lauf der Sonne folgen

Dem Sommer hinterher zu radeln, war die Grundidee hinter Jörg Barners Routenplanung. Während der warmen Monate reiste er über den Balkan, die Türkei und Iran durch Zentralasien bis nach China. Von dort ging es südwärts in die Tropen über Vietnam und das Goldene Dreieck bis nach Malaysia. Dem Sommer auf der Südhalbkugel folgte er durch Australien, Tasmanien und Neuseeland bis an die Südspitze des südamerikanischen Kontinents. Vom argentinischen Ushuaia – dem Tor zur Antarktis – ging es zunächst auf dem panamerikanischen Highway entlang der Pazifikküste Richtung Norden durch die Atacama-Wüste. In Peru führte ihn der Weg quer durch die Anden bis ins kolumbianische Medellin. Der Flug von dort nach San Francisco diente der Sicherheit. Das von Bürgerkrieg und Bandenkriminalität bedrohte Zentralamerika erschien ihm für eine Durchreise auf dem Rad als zu gefährlich.

Seine Fahrt durch die USA und Kanada endete in Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon-Territoriums im äußersten Norden Kanadas. Von dort ging die Reise zurück nach Europa. Von Lissabon aus erreichte Jörg Barner über Spanien und Frankreich nach 535 Tagen und 32 802 Kilometern seinen Heimatort Owen. Fünf Mal bestieg er auf seiner Reise ein Flugzeug, um Ozeane zu überqueren und Kontinente miteinander zu verbinden.

Geschlafen hat er meist unter freiem Himmel, im Zelt, als Gast in Familien oder in einfachen Unterkünften. Weil er auf einsamen Strecken ausreichend Proviant und Wasser bei sich haben musste, waren Fahrrad und Gepäck zusammen bis zu 55 Kilo schwer. Er legte, je nach Klima und Topografie, zwischen 2000 und 3000 Kilometer pro Monat zurück. Einziges Hilfsmittel war sein Handy, das ihm zur Kommunikation, als Fotoapparat und als Navigationsgerät diente.